Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Greis. Aber gerade darum darf ich's wagen. Morgen Mittag breche ich auf. Willigen Sie ein, so unterzeichne ich heute den Ehecontract, der sie zu meiner alleinigen Erbin einsetzt. Die Erlaubniß zu schneller Trauung bin ich zu erwirken sicher. Morgen früh lassen wir die Ceremonie vollziehen, und daß das Schicksal Ihrer Julie, des Kindes, das auf meinen Knieen aufgewachsen, mir, wenn ich einst zurückkehre, theuer und heilig sein wird, das wissen Sie. Meine Mutter konnte sich immer noch nicht fassen. Sie hatte in ihrer Jugend das eigene Herz zu besiegen und zu bekämpfen gehabt, als sie in eine Ehe eingetreten war, die nicht ihre Wahl geschlossen. Sie dachte, was aus mir werden sollte, wenn ich einst, zum vollen Bewußtsein herangereift, vielleicht eine Liebe fühlte, welche meiner Pflicht entgegen war, und sie sprach das endlich aus. Der Onkel nahm ihre Hand. Kennen Sie mich nicht? fragte er. Muß ich Ihnen sagen, daß Julie mir theuer bleiben wird, wie mein eigen Kind? daß einst ihre Wahl neben mir so frei ist, wie ich sie meiner Tochter lassen würde? Muß ich Ihnen sagen, Josephine, daß ich in einem Augenblick, wie dieser, an kein Weib, an kein Eheglück für mich gedachte? Meine Mutter war erschüttert und entschlossen. Sie erhob sich, öffnete die Thüre des Nebenzimmers und rief mich herein. Ihre Erregung, des Onkels ernste Ruhe fielen mir auf, mehr noch, daß Beide Greis. Aber gerade darum darf ich's wagen. Morgen Mittag breche ich auf. Willigen Sie ein, so unterzeichne ich heute den Ehecontract, der sie zu meiner alleinigen Erbin einsetzt. Die Erlaubniß zu schneller Trauung bin ich zu erwirken sicher. Morgen früh lassen wir die Ceremonie vollziehen, und daß das Schicksal Ihrer Julie, des Kindes, das auf meinen Knieen aufgewachsen, mir, wenn ich einst zurückkehre, theuer und heilig sein wird, das wissen Sie. Meine Mutter konnte sich immer noch nicht fassen. Sie hatte in ihrer Jugend das eigene Herz zu besiegen und zu bekämpfen gehabt, als sie in eine Ehe eingetreten war, die nicht ihre Wahl geschlossen. Sie dachte, was aus mir werden sollte, wenn ich einst, zum vollen Bewußtsein herangereift, vielleicht eine Liebe fühlte, welche meiner Pflicht entgegen war, und sie sprach das endlich aus. Der Onkel nahm ihre Hand. Kennen Sie mich nicht? fragte er. Muß ich Ihnen sagen, daß Julie mir theuer bleiben wird, wie mein eigen Kind? daß einst ihre Wahl neben mir so frei ist, wie ich sie meiner Tochter lassen würde? Muß ich Ihnen sagen, Josephine, daß ich in einem Augenblick, wie dieser, an kein Weib, an kein Eheglück für mich gedachte? Meine Mutter war erschüttert und entschlossen. Sie erhob sich, öffnete die Thüre des Nebenzimmers und rief mich herein. Ihre Erregung, des Onkels ernste Ruhe fielen mir auf, mehr noch, daß Beide <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0066"/> Greis. Aber gerade darum darf ich's wagen. Morgen Mittag breche ich auf. Willigen Sie ein, so unterzeichne ich heute den Ehecontract, der sie zu meiner alleinigen Erbin einsetzt. Die Erlaubniß zu schneller Trauung bin ich zu erwirken sicher. Morgen früh lassen wir die Ceremonie vollziehen, und daß das Schicksal Ihrer Julie, des Kindes, das auf meinen Knieen aufgewachsen, mir, wenn ich einst zurückkehre, theuer und heilig sein wird, das wissen Sie.</p><lb/> <p>Meine Mutter konnte sich immer noch nicht fassen. Sie hatte in ihrer Jugend das eigene Herz zu besiegen und zu bekämpfen gehabt, als sie in eine Ehe eingetreten war, die nicht ihre Wahl geschlossen. Sie dachte, was aus mir werden sollte, wenn ich einst, zum vollen Bewußtsein herangereift, vielleicht eine Liebe fühlte, welche meiner Pflicht entgegen war, und sie sprach das endlich aus. Der Onkel nahm ihre Hand. Kennen Sie mich nicht? fragte er. Muß ich Ihnen sagen, daß Julie mir theuer bleiben wird, wie mein eigen Kind? daß einst ihre Wahl neben mir so frei ist, wie ich sie meiner Tochter lassen würde? Muß ich Ihnen sagen, Josephine, daß ich in einem Augenblick, wie dieser, an kein Weib, an kein Eheglück für mich gedachte?</p><lb/> <p>Meine Mutter war erschüttert und entschlossen. Sie erhob sich, öffnete die Thüre des Nebenzimmers und rief mich herein. Ihre Erregung, des Onkels ernste Ruhe fielen mir auf, mehr noch, daß Beide<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0066]
Greis. Aber gerade darum darf ich's wagen. Morgen Mittag breche ich auf. Willigen Sie ein, so unterzeichne ich heute den Ehecontract, der sie zu meiner alleinigen Erbin einsetzt. Die Erlaubniß zu schneller Trauung bin ich zu erwirken sicher. Morgen früh lassen wir die Ceremonie vollziehen, und daß das Schicksal Ihrer Julie, des Kindes, das auf meinen Knieen aufgewachsen, mir, wenn ich einst zurückkehre, theuer und heilig sein wird, das wissen Sie.
Meine Mutter konnte sich immer noch nicht fassen. Sie hatte in ihrer Jugend das eigene Herz zu besiegen und zu bekämpfen gehabt, als sie in eine Ehe eingetreten war, die nicht ihre Wahl geschlossen. Sie dachte, was aus mir werden sollte, wenn ich einst, zum vollen Bewußtsein herangereift, vielleicht eine Liebe fühlte, welche meiner Pflicht entgegen war, und sie sprach das endlich aus. Der Onkel nahm ihre Hand. Kennen Sie mich nicht? fragte er. Muß ich Ihnen sagen, daß Julie mir theuer bleiben wird, wie mein eigen Kind? daß einst ihre Wahl neben mir so frei ist, wie ich sie meiner Tochter lassen würde? Muß ich Ihnen sagen, Josephine, daß ich in einem Augenblick, wie dieser, an kein Weib, an kein Eheglück für mich gedachte?
Meine Mutter war erschüttert und entschlossen. Sie erhob sich, öffnete die Thüre des Nebenzimmers und rief mich herein. Ihre Erregung, des Onkels ernste Ruhe fielen mir auf, mehr noch, daß Beide
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/66>, abgerufen am 05.07.2024. |