Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sein willst und kannst. Diese Freiheit ist der einzige Ersatz, den ich dir zu bieten vermag, und auf diese liebevoll gewährte Freiheit rechne zuversichtlich". Wie dieser Brief mich beruhigte und rührte, wie sehr ich ihn dem Manne dankte, der Rechte an mich hatte, brauche ich nicht erst zu sagen. Seine Handlungsweise war aus der reinen Güte seines Charakters hervorgegangen, und wie immer war das wirklich Gute auch das Kluge und das Verständige. Caroline und ich blieben noch in dem Hause meiner Eltern, das nun dem Bruder anheim gefallen war, bis er sich um Neujahr vermählte und wir eine eigene Wohnung nahmen. Wir lebten in derselben sehr zurückgezogen und fanden uns auch gut zusammen. Ich lernte es bald ertragen, wenn die Schwester von ihrem gestorbenen Verlobten sprach, weil es mich freute, seiner mit Liebe und Bewunderung gedenken zu hören, und für mich persönlich hatte ich nichts zu wünschen noch zu erstreben. Unsere Beschäftigungen im Frauenvereine gingen den ganzen Winter durch den gleichen Weg: Caroline wurde in den Vorstand gewählt und fand darin Zerstreuung, weil es ihre Thätigkeit noch mehr in Anspruch nahm. Im Frühjahr zogen die Alliirten in die Hauptstadt Frankreichs ein. Der Feind der deutschen Freiheit war besiegt, Deutschland gerettet. Der Enthusiasmus, die Freude, der Jubel der Gesammtheit verbargen die zahllosen Thränen um die Opfer, welche diese Befreiung sein willst und kannst. Diese Freiheit ist der einzige Ersatz, den ich dir zu bieten vermag, und auf diese liebevoll gewährte Freiheit rechne zuversichtlich“. Wie dieser Brief mich beruhigte und rührte, wie sehr ich ihn dem Manne dankte, der Rechte an mich hatte, brauche ich nicht erst zu sagen. Seine Handlungsweise war aus der reinen Güte seines Charakters hervorgegangen, und wie immer war das wirklich Gute auch das Kluge und das Verständige. Caroline und ich blieben noch in dem Hause meiner Eltern, das nun dem Bruder anheim gefallen war, bis er sich um Neujahr vermählte und wir eine eigene Wohnung nahmen. Wir lebten in derselben sehr zurückgezogen und fanden uns auch gut zusammen. Ich lernte es bald ertragen, wenn die Schwester von ihrem gestorbenen Verlobten sprach, weil es mich freute, seiner mit Liebe und Bewunderung gedenken zu hören, und für mich persönlich hatte ich nichts zu wünschen noch zu erstreben. Unsere Beschäftigungen im Frauenvereine gingen den ganzen Winter durch den gleichen Weg: Caroline wurde in den Vorstand gewählt und fand darin Zerstreuung, weil es ihre Thätigkeit noch mehr in Anspruch nahm. Im Frühjahr zogen die Alliirten in die Hauptstadt Frankreichs ein. Der Feind der deutschen Freiheit war besiegt, Deutschland gerettet. Der Enthusiasmus, die Freude, der Jubel der Gesammtheit verbargen die zahllosen Thränen um die Opfer, welche diese Befreiung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0122"/> sein willst und kannst. Diese Freiheit ist der einzige Ersatz, den ich dir zu bieten vermag, und auf diese liebevoll gewährte Freiheit rechne zuversichtlich“.</p><lb/> <p>Wie dieser Brief mich beruhigte und rührte, wie sehr ich ihn dem Manne dankte, der Rechte an mich hatte, brauche ich nicht erst zu sagen. Seine Handlungsweise war aus der reinen Güte seines Charakters hervorgegangen, und wie immer war das wirklich Gute auch das Kluge und das Verständige.</p><lb/> <p>Caroline und ich blieben noch in dem Hause meiner Eltern, das nun dem Bruder anheim gefallen war, bis er sich um Neujahr vermählte und wir eine eigene Wohnung nahmen. Wir lebten in derselben sehr zurückgezogen und fanden uns auch gut zusammen. Ich lernte es bald ertragen, wenn die Schwester von ihrem gestorbenen Verlobten sprach, weil es mich freute, seiner mit Liebe und Bewunderung gedenken zu hören, und für mich persönlich hatte ich nichts zu wünschen noch zu erstreben. Unsere Beschäftigungen im Frauenvereine gingen den ganzen Winter durch den gleichen Weg: Caroline wurde in den Vorstand gewählt und fand darin Zerstreuung, weil es ihre Thätigkeit noch mehr in Anspruch nahm.</p><lb/> <p>Im Frühjahr zogen die Alliirten in die Hauptstadt Frankreichs ein. Der Feind der deutschen Freiheit war besiegt, Deutschland gerettet. Der Enthusiasmus, die Freude, der Jubel der Gesammtheit verbargen die zahllosen Thränen um die Opfer, welche diese Befreiung<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0122]
sein willst und kannst. Diese Freiheit ist der einzige Ersatz, den ich dir zu bieten vermag, und auf diese liebevoll gewährte Freiheit rechne zuversichtlich“.
Wie dieser Brief mich beruhigte und rührte, wie sehr ich ihn dem Manne dankte, der Rechte an mich hatte, brauche ich nicht erst zu sagen. Seine Handlungsweise war aus der reinen Güte seines Charakters hervorgegangen, und wie immer war das wirklich Gute auch das Kluge und das Verständige.
Caroline und ich blieben noch in dem Hause meiner Eltern, das nun dem Bruder anheim gefallen war, bis er sich um Neujahr vermählte und wir eine eigene Wohnung nahmen. Wir lebten in derselben sehr zurückgezogen und fanden uns auch gut zusammen. Ich lernte es bald ertragen, wenn die Schwester von ihrem gestorbenen Verlobten sprach, weil es mich freute, seiner mit Liebe und Bewunderung gedenken zu hören, und für mich persönlich hatte ich nichts zu wünschen noch zu erstreben. Unsere Beschäftigungen im Frauenvereine gingen den ganzen Winter durch den gleichen Weg: Caroline wurde in den Vorstand gewählt und fand darin Zerstreuung, weil es ihre Thätigkeit noch mehr in Anspruch nahm.
Im Frühjahr zogen die Alliirten in die Hauptstadt Frankreichs ein. Der Feind der deutschen Freiheit war besiegt, Deutschland gerettet. Der Enthusiasmus, die Freude, der Jubel der Gesammtheit verbargen die zahllosen Thränen um die Opfer, welche diese Befreiung
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Zitationshilfe: | Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/122>, abgerufen am 26.07.2024. |