trieben, in der ersten Aufregung seines leiden- schaftlichen Schmerzes diese Antwort schrieb:
"Ein Mädchen, das Seelenstärke genug be- sitzt, den vertrauenden Mann, der mit glühen- der Liebe jeden Zweifel an sie für eine Tod- sünde gehalten, mit dem heiligsten Eide zu täu- schen, wird die Kraft finden, eine Trennung zu ertragen, der mein Männermuth zu unter- liegen droht. Wohl ihr, wenn diese Kraft sie auch vor Reue bewahrt."
Anfänglich sollte das Alles sein, was er ihr sagen wollte, und seine Mutter, welche dies Blatt gelesen, beeilte sich, es abzusenden, weil es gerade so ihrer Gesinnung entsprach. Aber ein anderer Geist, eine unsägliche Traurigkeit kam über Reinhard. Er entriß das Blatt den Händen seiner Mutter, öffnete es nochmals und fuhr fort:
"Jenny, warum hast Du mir das gethan?"
trieben, in der erſten Aufregung ſeines leiden- ſchaftlichen Schmerzes dieſe Antwort ſchrieb:
„Ein Mädchen, das Seelenſtärke genug be- ſitzt, den vertrauenden Mann, der mit glühen- der Liebe jeden Zweifel an ſie für eine Tod- ſünde gehalten, mit dem heiligſten Eide zu täu- ſchen, wird die Kraft finden, eine Trennung zu ertragen, der mein Männermuth zu unter- liegen droht. Wohl ihr, wenn dieſe Kraft ſie auch vor Reue bewahrt.“
Anfänglich ſollte das Alles ſein, was er ihr ſagen wollte, und ſeine Mutter, welche dies Blatt geleſen, beeilte ſich, es abzuſenden, weil es gerade ſo ihrer Geſinnung entſprach. Aber ein anderer Geiſt, eine unſägliche Traurigkeit kam über Reinhard. Er entriß das Blatt den Händen ſeiner Mutter, öffnete es nochmals und fuhr fort:
„Jenny, warum haſt Du mir das gethan?“
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0152"n="142"/>
trieben, in der erſten Aufregung ſeines leiden-<lb/>ſchaftlichen Schmerzes dieſe Antwort ſchrieb:</p><lb/><p>„Ein Mädchen, das Seelenſtärke genug be-<lb/>ſitzt, den vertrauenden Mann, der mit glühen-<lb/>
der Liebe jeden Zweifel an ſie für eine Tod-<lb/>ſünde gehalten, mit dem heiligſten Eide zu täu-<lb/>ſchen, wird die Kraft finden, eine Trennung<lb/>
zu ertragen, der mein Männermuth zu unter-<lb/>
liegen droht. Wohl ihr, wenn dieſe Kraft ſie<lb/>
auch vor Reue bewahrt.“</p><lb/><p>Anfänglich ſollte das Alles ſein, was er<lb/>
ihr ſagen wollte, und ſeine Mutter, welche dies<lb/>
Blatt geleſen, beeilte ſich, es abzuſenden, weil<lb/>
es gerade ſo ihrer Geſinnung entſprach. Aber<lb/>
ein anderer Geiſt, eine unſägliche Traurigkeit<lb/>
kam über Reinhard. Er entriß das Blatt den<lb/>
Händen ſeiner Mutter, öffnete es nochmals und<lb/>
fuhr fort:</p><lb/><p>„Jenny, warum haſt Du mir das gethan?“<lb/></p></div></body></text></TEI>
[142/0152]
trieben, in der erſten Aufregung ſeines leiden-
ſchaftlichen Schmerzes dieſe Antwort ſchrieb:
„Ein Mädchen, das Seelenſtärke genug be-
ſitzt, den vertrauenden Mann, der mit glühen-
der Liebe jeden Zweifel an ſie für eine Tod-
ſünde gehalten, mit dem heiligſten Eide zu täu-
ſchen, wird die Kraft finden, eine Trennung
zu ertragen, der mein Männermuth zu unter-
liegen droht. Wohl ihr, wenn dieſe Kraft ſie
auch vor Reue bewahrt.“
Anfänglich ſollte das Alles ſein, was er
ihr ſagen wollte, und ſeine Mutter, welche dies
Blatt geleſen, beeilte ſich, es abzuſenden, weil
es gerade ſo ihrer Geſinnung entſprach. Aber
ein anderer Geiſt, eine unſägliche Traurigkeit
kam über Reinhard. Er entriß das Blatt den
Händen ſeiner Mutter, öffnete es nochmals und
fuhr fort:
„Jenny, warum haſt Du mir das gethan?“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/152>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.