ihr Charakter zu bekommen schien, am leichtesten vertilgen. Die Eltern folgten seinem Rathe und die neuen Verhältnisse machten in vielen Beziehungen einen günstigen Eindruck auf Jenny. Sie gewöhnte sich, ihrem Witze nicht so zügel- los den Lauf zu lassen, als in dem elterlichen Hause, wo man ihre beißendsten Einfälle nur lachend getadelt hatte; sie lernte es, sich in den Willen ihrer Mitschülerinnen zu fügen, dem Lehrer zu gehorchen, aber sie fing auch an, sich ihrer Fähigkeiten bewußt zu werden, die sie in die erste Klasse gebracht, in der alle Mädchen um ein paar Jahre älter waren als sie. Von einem Umgange, wie Eduard ihn für sie ge- hofft, war indessen nicht die Rede. Die halb- erwachsenen Mädchen dieser ersten Klasse konn- ten sich größtentheils mit dem bedeutend jün- gern Kinde weder unterhalten, noch befreunden, das ihnen obenein von den Lehrern mitunter vorgezogen wurde. Andere, denen Jenny's leb-
ihr Charakter zu bekommen ſchien, am leichteſten vertilgen. Die Eltern folgten ſeinem Rathe und die neuen Verhältniſſe machten in vielen Beziehungen einen günſtigen Eindruck auf Jenny. Sie gewöhnte ſich, ihrem Witze nicht ſo zügel- los den Lauf zu laſſen, als in dem elterlichen Hauſe, wo man ihre beißendſten Einfälle nur lachend getadelt hatte; ſie lernte es, ſich in den Willen ihrer Mitſchülerinnen zu fügen, dem Lehrer zu gehorchen, aber ſie fing auch an, ſich ihrer Fähigkeiten bewußt zu werden, die ſie in die erſte Klaſſe gebracht, in der alle Mädchen um ein paar Jahre älter waren als ſie. Von einem Umgange, wie Eduard ihn für ſie ge- hofft, war indeſſen nicht die Rede. Die halb- erwachſenen Mädchen dieſer erſten Klaſſe konn- ten ſich größtentheils mit dem bedeutend jün- gern Kinde weder unterhalten, noch befreunden, das ihnen obenein von den Lehrern mitunter vorgezogen wurde. Andere, denen Jenny's leb-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0068"n="56"/>
ihr Charakter zu bekommen ſchien, am leichteſten<lb/>
vertilgen. Die Eltern folgten ſeinem Rathe<lb/>
und die neuen Verhältniſſe machten in vielen<lb/>
Beziehungen einen günſtigen Eindruck auf Jenny.<lb/>
Sie gewöhnte ſich, ihrem Witze nicht ſo zügel-<lb/>
los den Lauf zu laſſen, als in dem elterlichen<lb/>
Hauſe, wo man ihre beißendſten Einfälle nur<lb/>
lachend getadelt hatte; ſie lernte es, ſich in den<lb/>
Willen ihrer Mitſchülerinnen zu fügen, dem<lb/>
Lehrer zu gehorchen, aber ſie fing auch an, ſich<lb/>
ihrer Fähigkeiten bewußt zu werden, die ſie in<lb/>
die erſte Klaſſe gebracht, in der alle Mädchen<lb/>
um ein paar Jahre älter waren als ſie. Von<lb/>
einem Umgange, wie Eduard ihn für ſie ge-<lb/>
hofft, war indeſſen nicht die Rede. Die halb-<lb/>
erwachſenen Mädchen dieſer erſten Klaſſe konn-<lb/>
ten ſich größtentheils mit dem bedeutend jün-<lb/>
gern Kinde weder unterhalten, noch befreunden,<lb/>
das ihnen obenein von den Lehrern mitunter<lb/>
vorgezogen wurde. Andere, denen Jenny's leb-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[56/0068]
ihr Charakter zu bekommen ſchien, am leichteſten
vertilgen. Die Eltern folgten ſeinem Rathe
und die neuen Verhältniſſe machten in vielen
Beziehungen einen günſtigen Eindruck auf Jenny.
Sie gewöhnte ſich, ihrem Witze nicht ſo zügel-
los den Lauf zu laſſen, als in dem elterlichen
Hauſe, wo man ihre beißendſten Einfälle nur
lachend getadelt hatte; ſie lernte es, ſich in den
Willen ihrer Mitſchülerinnen zu fügen, dem
Lehrer zu gehorchen, aber ſie fing auch an, ſich
ihrer Fähigkeiten bewußt zu werden, die ſie in
die erſte Klaſſe gebracht, in der alle Mädchen
um ein paar Jahre älter waren als ſie. Von
einem Umgange, wie Eduard ihn für ſie ge-
hofft, war indeſſen nicht die Rede. Die halb-
erwachſenen Mädchen dieſer erſten Klaſſe konn-
ten ſich größtentheils mit dem bedeutend jün-
gern Kinde weder unterhalten, noch befreunden,
das ihnen obenein von den Lehrern mitunter
vorgezogen wurde. Andere, denen Jenny's leb-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/68>, abgerufen am 14.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.