rer, als eine gewisse Herrschaft über seine Ge- fährten. Von Liebe und Wohlwollen überall umgeben, schien sein Charakter eine große Of- fenheit zu gewinnen, und er galt für einen fröhlichen, sorglosen Knaben, bis einst in der Schule der Sohn einer gräflichen Familie, mit dem er sich knabenhaft in Riesenplanen für die Zukunft verlor, bedauernd gegen ihn äußerte: "Ja, Meier, Dir hilft all Dein Lernen nichts, Du kannst ja doch nichts werden, weil Du nur ein Jude bist."
Von dieser Stunde ab war der Knabe wie verwandelt; er erkundigte sich eifrig nach den Verhältnissen der Juden, er fühlte sich gedrückt und gekränkt, und nur sein angeborner Stolz verhinderte ihn, sich gedemüthigt zu fühlen; doch entwickelte sich durch das Nachdenken über diesen Gegenstand bei ihm sehr früh der Begriff von jenen Rechten des Menschen, die Alle in gleichem Grade geltend zu machen vermögen,
rer, als eine gewiſſe Herrſchaft über ſeine Ge- fährten. Von Liebe und Wohlwollen überall umgeben, ſchien ſein Charakter eine große Of- fenheit zu gewinnen, und er galt für einen fröhlichen, ſorgloſen Knaben, bis einſt in der Schule der Sohn einer gräflichen Familie, mit dem er ſich knabenhaft in Rieſenplanen für die Zukunft verlor, bedauernd gegen ihn äußerte: „Ja, Meier, Dir hilft all Dein Lernen nichts, Du kannſt ja doch nichts werden, weil Du nur ein Jude biſt.“
Von dieſer Stunde ab war der Knabe wie verwandelt; er erkundigte ſich eifrig nach den Verhältniſſen der Juden, er fühlte ſich gedrückt und gekränkt, und nur ſein angeborner Stolz verhinderte ihn, ſich gedemüthigt zu fühlen; doch entwickelte ſich durch das Nachdenken über dieſen Gegenſtand bei ihm ſehr früh der Begriff von jenen Rechten des Menſchen, die Alle in gleichem Grade geltend zu machen vermögen,
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rer, als eine gewiſſe Herrſchaft über ſeine Ge-
fährten. Von Liebe und Wohlwollen überall
umgeben, ſchien ſein Charakter eine große Of-
fenheit zu gewinnen, und er galt für einen
fröhlichen, ſorgloſen Knaben, bis einſt in der
Schule der Sohn einer gräflichen Familie, mit
dem er ſich knabenhaft in Rieſenplanen für die
Zukunft verlor, bedauernd gegen ihn äußerte:
„Ja, Meier, Dir hilft all Dein Lernen nichts,
Du kannſt ja doch nichts werden, weil Du
nur ein Jude biſt.“
Von dieſer Stunde ab war der Knabe wie
verwandelt; er erkundigte ſich eifrig nach den
Verhältniſſen der Juden, er fühlte ſich gedrückt
und gekränkt, und nur ſein angeborner Stolz
verhinderte ihn, ſich gedemüthigt zu fühlen;
doch entwickelte ſich durch das Nachdenken über
dieſen Gegenſtand bei ihm ſehr früh der Begriff
von jenen Rechten des Menſchen, die Alle in
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/53>, abgerufen am 24.11.2024.
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