"Weil in Frankreich der ganze Zustand der Gesellschaft ein verderbter, ein aufgelöster ist; weil die Bande der Ehe locker geworden sind, und das Haus, die Familie aufgehört haben, der Centralpunkt zu sein, von dem Alles aus- geht. Was kann es nützen, ein Mädchen in den strengsten Grundsätzen zu erziehen, wenn der erste Schritt ins Leben ihr zeigt, daß we- der ihre Eltern, noch ihr Gatte an diese Grund- sätze glauben; wenn sich das junge, liebebedürf- tige Herz verrathen sieht, vielleicht um einer Tänzerin willen, die nicht werth ist, dem from- men Kinde die Schuhriemen zu lösen. Wenn dann das böse Beispiel dazu kommt, das die sogenannten modernen Romane und das Theater bieten, da braucht man sich freilich über die Er- folge in Frankreich nicht zu wundern", eiferte Eduard.
"Aber bei uns, mein Sohn!" wandte Ma- dame Meier ein, "ist doch der Zustand der
„Weil in Frankreich der ganze Zuſtand der Geſellſchaft ein verderbter, ein aufgelöſter iſt; weil die Bande der Ehe locker geworden ſind, und das Haus, die Familie aufgehört haben, der Centralpunkt zu ſein, von dem Alles aus- geht. Was kann es nützen, ein Mädchen in den ſtrengſten Grundſätzen zu erziehen, wenn der erſte Schritt ins Leben ihr zeigt, daß we- der ihre Eltern, noch ihr Gatte an dieſe Grund- ſätze glauben; wenn ſich das junge, liebebedürf- tige Herz verrathen ſieht, vielleicht um einer Tänzerin willen, die nicht werth iſt, dem from- men Kinde die Schuhriemen zu löſen. Wenn dann das böſe Beiſpiel dazu kommt, das die ſogenannten modernen Romane und das Theater bieten, da braucht man ſich freilich über die Er- folge in Frankreich nicht zu wundern“, eiferte Eduard.
„Aber bei uns, mein Sohn!“ wandte Ma- dame Meier ein, „iſt doch der Zuſtand der
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0107"n="95"/><p>„Weil in Frankreich der ganze Zuſtand der<lb/>
Geſellſchaft ein verderbter, ein aufgelöſter iſt;<lb/>
weil die Bande der Ehe locker geworden ſind,<lb/>
und das Haus, die Familie aufgehört haben,<lb/>
der Centralpunkt zu ſein, von dem Alles aus-<lb/>
geht. Was kann es nützen, ein Mädchen in<lb/>
den ſtrengſten Grundſätzen zu erziehen, wenn<lb/>
der erſte Schritt ins Leben ihr zeigt, daß we-<lb/>
der ihre Eltern, noch ihr Gatte an dieſe Grund-<lb/>ſätze glauben; wenn ſich das junge, liebebedürf-<lb/>
tige Herz verrathen ſieht, vielleicht um einer<lb/>
Tänzerin willen, die nicht werth iſt, dem from-<lb/>
men Kinde die Schuhriemen zu löſen. Wenn<lb/>
dann das böſe Beiſpiel dazu kommt, das die<lb/>ſogenannten modernen Romane und das Theater<lb/>
bieten, da braucht man ſich freilich über die Er-<lb/>
folge in Frankreich nicht zu wundern“, eiferte<lb/>
Eduard.</p><lb/><p>„Aber bei uns, mein Sohn!“ wandte Ma-<lb/>
dame Meier ein, „iſt doch der Zuſtand der<lb/></p></div></body></text></TEI>
[95/0107]
„Weil in Frankreich der ganze Zuſtand der
Geſellſchaft ein verderbter, ein aufgelöſter iſt;
weil die Bande der Ehe locker geworden ſind,
und das Haus, die Familie aufgehört haben,
der Centralpunkt zu ſein, von dem Alles aus-
geht. Was kann es nützen, ein Mädchen in
den ſtrengſten Grundſätzen zu erziehen, wenn
der erſte Schritt ins Leben ihr zeigt, daß we-
der ihre Eltern, noch ihr Gatte an dieſe Grund-
ſätze glauben; wenn ſich das junge, liebebedürf-
tige Herz verrathen ſieht, vielleicht um einer
Tänzerin willen, die nicht werth iſt, dem from-
men Kinde die Schuhriemen zu löſen. Wenn
dann das böſe Beiſpiel dazu kommt, das die
ſogenannten modernen Romane und das Theater
bieten, da braucht man ſich freilich über die Er-
folge in Frankreich nicht zu wundern“, eiferte
Eduard.
„Aber bei uns, mein Sohn!“ wandte Ma-
dame Meier ein, „iſt doch der Zuſtand der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/107>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.