"die Leidenschaft zeige; gerade so, wie die Alten "von der berühmten Bildsäule des Apollodorus "vom Silanion angemerkt haben, daß sie nicht "sowohl den zornigen Apollodorus, als die Lei- "denschaft des Zornes vorstelle. (*) Dieses aber "muß blos so verstanden werden, daß er die "hauptsächlichen Züge der vorgebildeten Lei- "denschaft gut ausgedrückt habe. Denn im "Uebrigen behandelt er seinen Vorwurf eben so, "wie er jeden andern behandeln würde: das ist, "er vergißt die mitverbundenen Eigen- "schaften nicht, und nimmt das allgemeine "Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an "einer menschlichen Figur erwartet, in Acht. "Und das heißt denn die Natur schildern, wel- "che uns kein Beyspiel von einem Menschen "giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden- "schaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho- "sis könnte seltsamer und unglaublicher seyn. "Gleichwohl sind Portraite, in diesem tadelhaf- "ten Geschmacke verfertiget, die Bewunderung "gemeiner Gaffer, die, wenn sie in einer Samm- "lung das Gemählde, z. E. eines Geitzigen, "(denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in dieser "Gattung nicht,) erblicken, und nach dieser "Jdee jede Muskel, jeden Zug angestrenget, "verzerret und überladen finden, sicherlich nicht
"er-
(*)Non hominem ex aere fecit, sed iracun- diam. Plinius libr. 34. 8.
„die Leidenſchaft zeige; gerade ſo, wie die Alten „von der berühmten Bildſäule des Apollodorus „vom Silanion angemerkt haben, daß ſie nicht „ſowohl den zornigen Apollodorus, als die Lei- „denſchaft des Zornes vorſtelle. (*) Dieſes aber „muß blos ſo verſtanden werden, daß er die „hauptſächlichen Züge der vorgebildeten Lei- „denſchaft gut ausgedrückt habe. Denn im „Uebrigen behandelt er ſeinen Vorwurf eben ſo, „wie er jeden andern behandeln würde: das iſt, „er vergißt die mitverbundenen Eigen- „ſchaften nicht, und nimmt das allgemeine „Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an „einer menſchlichen Figur erwartet, in Acht. „Und das heißt denn die Natur ſchildern, wel- „che uns kein Beyſpiel von einem Menſchen „giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden- „ſchaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho- „ſis könnte ſeltſamer und unglaublicher ſeyn. „Gleichwohl ſind Portraite, in dieſem tadelhaf- „ten Geſchmacke verfertiget, die Bewunderung „gemeiner Gaffer, die, wenn ſie in einer Samm- „lung das Gemählde, z. E. eines Geitzigen, „(denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in dieſer „Gattung nicht,) erblicken, und nach dieſer „Jdee jede Muſkel, jeden Zug angeſtrenget, „verzerret und überladen finden, ſicherlich nicht
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(*)Non hominem ex ære fecit, ſed iracun- diam. Plinius libr. 34. 8.
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„die Leidenſchaft zeige; gerade ſo, wie die Alten
„von der berühmten Bildſäule des Apollodorus
„vom Silanion angemerkt haben, daß ſie nicht
„ſowohl den zornigen Apollodorus, als die Lei-
„denſchaft des Zornes vorſtelle. (*) Dieſes aber
„muß blos ſo verſtanden werden, daß er die
„hauptſächlichen Züge der vorgebildeten Lei-
„denſchaft gut ausgedrückt habe. Denn im
„Uebrigen behandelt er ſeinen Vorwurf eben ſo,
„wie er jeden andern behandeln würde: das iſt,
„er vergißt die mitverbundenen Eigen-
„ſchaften nicht, und nimmt das allgemeine
„Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an
„einer menſchlichen Figur erwartet, in Acht.
„Und das heißt denn die Natur ſchildern, wel-
„che uns kein Beyſpiel von einem Menſchen
„giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden-
„ſchaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho-
„ſis könnte ſeltſamer und unglaublicher ſeyn.
„Gleichwohl ſind Portraite, in dieſem tadelhaf-
„ten Geſchmacke verfertiget, die Bewunderung
„gemeiner Gaffer, die, wenn ſie in einer Samm-
„lung das Gemählde, z. E. eines Geitzigen,
„(denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in dieſer
„Gattung nicht,) erblicken, und nach dieſer
„Jdee jede Muſkel, jeden Zug angeſtrenget,
„verzerret und überladen finden, ſicherlich nicht
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(*) Non hominem ex ære fecit, ſed iracun-
diam. Plinius libr. 34. 8.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/328>, abgerufen am 21.11.2024.
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