"denn erhellet, daß, wenn ich den tragischen "Charakter partikular nenne, ich blos sa- "gen will, daß er die Art, zu welcher er gehö- "ret, weniger vorstellig macht, als der komi- "sche; nicht aber, daß das, was man von dem "Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag "nun so wenig seyn, als es will, nicht nach "dem Allgemeinen entworfen seyn sollte, "als wovon ich das Gegentheil anderwärts be- "hauptet und umständlich erläutert habe. (*)
"Was zweytens die Komödie anbelangt, "so habe ich gesagt, daß sie generale Cha- "raktere geben müsse, und habe zum Beyspiele "den Geitzigen des Moliere angeführt, der "mehr der Jdee des Geitzes, als eines wirk- "lichen geitzigen Mannes entspricht. Doch "auch hier muß man meine Worte nicht in aller "ihrer Strenge nehmen. Moliere dünkt mich
"in
(*) Bey den Versen der Horazischen Dichtkunst: Respicere exemplar vitae morumque ju- bebo Doctum imitatorem, & veras hinc ducere voces, wo Hurd zeiget, daß die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen solchen Ausdruck bedeute, als der all- gemeinen Natur der Dinge gemäß ist; Falschheit hingegen das heisse, was zwar dem vorhabenden besondern Falle angemes- sen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinstimmend sey.
„denn erhellet, daß, wenn ich den tragiſchen „Charakter partikular nenne, ich blos ſa- „gen will, daß er die Art, zu welcher er gehö- „ret, weniger vorſtellig macht, als der komi- „ſche; nicht aber, daß das, was man von dem „Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag „nun ſo wenig ſeyn, als es will, nicht nach „dem Allgemeinen entworfen ſeyn ſollte, „als wovon ich das Gegentheil anderwärts be- „hauptet und umſtändlich erläutert habe. (*)
„Was zweytens die Komödie anbelangt, „ſo habe ich geſagt, daß ſie generale Cha- „raktere geben müſſe, und habe zum Beyſpiele „den Geitzigen des Moliere angeführt, der „mehr der Jdee des Geitzes, als eines wirk- „lichen geitzigen Mannes entſpricht. Doch „auch hier muß man meine Worte nicht in aller „ihrer Strenge nehmen. Moliere dünkt mich
„in
(*) Bey den Verſen der Horaziſchen Dichtkunſt: Reſpicere exemplar vitæ morumque ju- bebo Doctum imitatorem, & veras hinc ducere voces, wo Hurd zeiget, daß die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen ſolchen Ausdruck bedeute, als der all- gemeinen Natur der Dinge gemäß iſt; Falſchheit hingegen das heiſſe, was zwar dem vorhabenden beſondern Falle angemeſ- ſen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinſtimmend ſey.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0324"n="318"/>„denn erhellet, daß, wenn ich den tragiſchen<lb/>„Charakter <hirendition="#g">partikular</hi> nenne, ich blos ſa-<lb/>„gen will, daß er die Art, zu welcher er gehö-<lb/>„ret, weniger vorſtellig macht, als der komi-<lb/>„ſche; nicht aber, daß das, was man von dem<lb/>„Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag<lb/>„nun ſo wenig ſeyn, als es will, nicht nach<lb/>„dem <hirendition="#g">Allgemeinen</hi> entworfen ſeyn ſollte,<lb/>„als wovon ich das Gegentheil anderwärts be-<lb/>„hauptet und umſtändlich erläutert habe. <noteplace="foot"n="(*)">Bey den Verſen der Horaziſchen Dichtkunſt:<lb/><hirendition="#aq">Reſpicere exemplar vitæ morumque ju-<lb/>
bebo Doctum imitatorem, & veras hinc<lb/>
ducere voces,</hi> wo <hirendition="#g">Hurd</hi> zeiget, daß die<lb/><hirendition="#g">Wahrheit</hi>, welche Horaz hier verlangt,<lb/>
einen ſolchen Ausdruck bedeute, als der all-<lb/>
gemeinen Natur der Dinge gemäß iſt;<lb/><hirendition="#g">Falſchheit</hi> hingegen das heiſſe, was zwar<lb/>
dem vorhabenden beſondern Falle angemeſ-<lb/>ſen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur<lb/>
übereinſtimmend ſey.</note></p><lb/><p>„Was <hirendition="#g">zweytens</hi> die Komödie anbelangt,<lb/>„ſo habe ich geſagt, daß ſie <hirendition="#g">generale</hi> Cha-<lb/>„raktere geben müſſe, und habe zum Beyſpiele<lb/>„den <hirendition="#g">Geitzigen</hi> des Moliere angeführt, der<lb/>„mehr der Jdee des <hirendition="#g">Geitzes</hi>, als eines wirk-<lb/>„lichen <hirendition="#g">geitzigen Mannes</hi> entſpricht. Doch<lb/>„auch hier muß man meine Worte nicht in aller<lb/>„ihrer Strenge nehmen. Moliere dünkt mich<lb/><fwplace="bottom"type="catch">„in</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[318/0324]
„denn erhellet, daß, wenn ich den tragiſchen
„Charakter partikular nenne, ich blos ſa-
„gen will, daß er die Art, zu welcher er gehö-
„ret, weniger vorſtellig macht, als der komi-
„ſche; nicht aber, daß das, was man von dem
„Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag
„nun ſo wenig ſeyn, als es will, nicht nach
„dem Allgemeinen entworfen ſeyn ſollte,
„als wovon ich das Gegentheil anderwärts be-
„hauptet und umſtändlich erläutert habe. (*)
„Was zweytens die Komödie anbelangt,
„ſo habe ich geſagt, daß ſie generale Cha-
„raktere geben müſſe, und habe zum Beyſpiele
„den Geitzigen des Moliere angeführt, der
„mehr der Jdee des Geitzes, als eines wirk-
„lichen geitzigen Mannes entſpricht. Doch
„auch hier muß man meine Worte nicht in aller
„ihrer Strenge nehmen. Moliere dünkt mich
„in
(*) Bey den Verſen der Horaziſchen Dichtkunſt:
Reſpicere exemplar vitæ morumque ju-
bebo Doctum imitatorem, & veras hinc
ducere voces, wo Hurd zeiget, daß die
Wahrheit, welche Horaz hier verlangt,
einen ſolchen Ausdruck bedeute, als der all-
gemeinen Natur der Dinge gemäß iſt;
Falſchheit hingegen das heiſſe, was zwar
dem vorhabenden beſondern Falle angemeſ-
ſen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur
übereinſtimmend ſey.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/324>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.