Aber diesen Jrrthum hatte Aristoteles schon vor zwey tausend Jahren widerlegt, und auf die ihr entgegen stehende Wahrheit den wesent- lichen Unterschied zwischen der Geschichte und Poesie, so wie den größern Nutzen der letztern vor der erstern, gegründet. Auch hat er es auf eine so einleuchtende Art gethan, daß ich nur seine Worte anführen darf, um keine ge- ringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer so offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm seyn könne.
"Aus diesen also, sagt Aristoteles, (*) nach- dem er die wesentlichen Eigenschaften der poeti- schen Fabel festgesetzt, "aus diesen also erhellet klar, "daß des Dichters Werk nicht ist, zu erzählen, was "geschehen, sondern zu erzählen, von welcher Be- "schaffenheit das Geschehene, und was nach der "Wahrscheinlichkeit oder Nothwendigkeit dabey "möglich gewesen. Denn Geschichtschreiber und "Dichter unterscheiden sich nicht durch die ge- "bundene oder ungebundene Rede: indem man "die Bücher des Herodotus in gebundene Rede "bringen kann, und sie darum doch nichts we- "niger in gebundener Rede eine Geschichte seyn "werden, als sie es in ungebundener waren. Son- "dern darinn unterscheiden sie sich, daß jener erzäh- "let, was geschehen; dieser aber, von welcher Be- "schaffenheit das Geschehene gewesen. Daher ist
"denn
(*) Dichtk. 9tes Kapitel.
Aber dieſen Jrrthum hatte Ariſtoteles ſchon vor zwey tauſend Jahren widerlegt, und auf die ihr entgegen ſtehende Wahrheit den weſent- lichen Unterſchied zwiſchen der Geſchichte und Poeſie, ſo wie den größern Nutzen der letztern vor der erſtern, gegründet. Auch hat er es auf eine ſo einleuchtende Art gethan, daß ich nur ſeine Worte anführen darf, um keine ge- ringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer ſo offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm ſeyn könne.
„Aus dieſen alſo, ſagt Ariſtoteles, (*) nach- dem er die weſentlichen Eigenſchaften der poeti- ſchen Fabel feſtgeſetzt, „aus dieſen alſo erhellet klar, „daß des Dichters Werk nicht iſt, zu erzählen, was „geſchehen, ſondern zu erzählen, von welcher Be- „ſchaffenheit das Geſchehene, und was nach der „Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit dabey „möglich geweſen. Denn Geſchichtſchreiber und „Dichter unterſcheiden ſich nicht durch die ge- „bundene oder ungebundene Rede: indem man „die Bücher des Herodotus in gebundene Rede „bringen kann, und ſie darum doch nichts we- „niger in gebundener Rede eine Geſchichte ſeyn „werden, als ſie es in ungebundener waren. Son- „dern darinn unterſcheiden ſie ſich, daß jener erzäh- „let, was geſchehen; dieſer aber, von welcher Be- „ſchaffenheit das Geſchehene geweſen. Daher iſt
„denn
(*) Dichtk. 9tes Kapitel.
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Aber dieſen Jrrthum hatte Ariſtoteles ſchon
vor zwey tauſend Jahren widerlegt, und auf
die ihr entgegen ſtehende Wahrheit den weſent-
lichen Unterſchied zwiſchen der Geſchichte und
Poeſie, ſo wie den größern Nutzen der letztern
vor der erſtern, gegründet. Auch hat er es
auf eine ſo einleuchtende Art gethan, daß ich
nur ſeine Worte anführen darf, um keine ge-
ringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer
ſo offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher
Meinung mit ihm ſeyn könne.
„Aus dieſen alſo, ſagt Ariſtoteles, (*) nach-
dem er die weſentlichen Eigenſchaften der poeti-
ſchen Fabel feſtgeſetzt, „aus dieſen alſo erhellet klar,
„daß des Dichters Werk nicht iſt, zu erzählen, was
„geſchehen, ſondern zu erzählen, von welcher Be-
„ſchaffenheit das Geſchehene, und was nach der
„Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit dabey
„möglich geweſen. Denn Geſchichtſchreiber und
„Dichter unterſcheiden ſich nicht durch die ge-
„bundene oder ungebundene Rede: indem man
„die Bücher des Herodotus in gebundene Rede
„bringen kann, und ſie darum doch nichts we-
„niger in gebundener Rede eine Geſchichte ſeyn
„werden, als ſie es in ungebundener waren. Son-
„dern darinn unterſcheiden ſie ſich, daß jener erzäh-
„let, was geſchehen; dieſer aber, von welcher Be-
„ſchaffenheit das Geſchehene geweſen. Daher iſt
„denn
(*) Dichtk. 9tes Kapitel.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/296>, abgerufen am 21.11.2024.
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