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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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den zwar proportionirten, aber doch noch immer
unglücklichen Folgen derselben, gegen sie auf
seiner Hut zu seyn lernen. Doch dieses gründet
sich auf den falschen Begriff, welchen Corneille
von der Furcht und von der Reinigung der in
der Tragödie zu erweckenden Leidenschaften hat-
te, und widerspricht sich selbst. Denn ich habe
schon gezeigt, daß die Erregung des Mitleids
von der Erregung der Furcht unzertrennlich ist,
und daß der Bösewicht, wenn es möglich wäre,
daß er unsere Furcht erregen könne, auch noth-
wendig unser Mitleid erregen müßte. Da er
aber dieses, wie Corneille selbst zugesteht, nicht
kann, so kann er auch jenes nicht, und bleibt
gänzlich ungeschickt, die Absicht der Tragödie
erreichen zu helfen. Ja Aristoteles hält ihn
hierzu noch für ungeschickter, als den ganz tu-
gendhaften Mann; denn er will ausdrücklich,
Falls man den Held aus der mittlern Gattung
nicht haben könne, daß man ihn eher besser als
schlimmer wählen solle. Die Ursache ist klar:
ein Mensch kann sehr sehr gut seyn, und doch noch
mehr als eine Schwachheit haben, mehr als
einen Fehler begehen, wodurch er sich in ein un-
absehliches Unglück stürzet, das uns mit Mit-
leid und Wehmuth erfüllet, ohne im geringsten
gräßlich zu seyn, weil es die natürliche Folge
seines Fehlers ist. -- Was Du Bos (*) von

dem
(*) Reflexions cr. T. I. Sect. XV.

den zwar proportionirten, aber doch noch immer
unglücklichen Folgen derſelben, gegen ſie auf
ſeiner Hut zu ſeyn lernen. Doch dieſes gründet
ſich auf den falſchen Begriff, welchen Corneille
von der Furcht und von der Reinigung der in
der Tragödie zu erweckenden Leidenſchaften hat-
te, und widerſpricht ſich ſelbſt. Denn ich habe
ſchon gezeigt, daß die Erregung des Mitleids
von der Erregung der Furcht unzertrennlich iſt,
und daß der Böſewicht, wenn es möglich wäre,
daß er unſere Furcht erregen könne, auch noth-
wendig unſer Mitleid erregen müßte. Da er
aber dieſes, wie Corneille ſelbſt zugeſteht, nicht
kann, ſo kann er auch jenes nicht, und bleibt
gänzlich ungeſchickt, die Abſicht der Tragödie
erreichen zu helfen. Ja Ariſtoteles hält ihn
hierzu noch für ungeſchickter, als den ganz tu-
gendhaften Mann; denn er will ausdrücklich,
Falls man den Held aus der mittlern Gattung
nicht haben könne, daß man ihn eher beſſer als
ſchlimmer wählen ſolle. Die Urſache iſt klar:
ein Menſch kann ſehr ſehr gut ſeyn, und doch noch
mehr als eine Schwachheit haben, mehr als
einen Fehler begehen, wodurch er ſich in ein un-
abſehliches Unglück ſtürzet, das uns mit Mit-
leid und Wehmuth erfüllet, ohne im geringſten
gräßlich zu ſeyn, weil es die natürliche Folge
ſeines Fehlers iſt. — Was Du Bos (*) von

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(*) Reflexions cr. T. I. Sect. XV.
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[239/0245] den zwar proportionirten, aber doch noch immer unglücklichen Folgen derſelben, gegen ſie auf ſeiner Hut zu ſeyn lernen. Doch dieſes gründet ſich auf den falſchen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von der Reinigung der in der Tragödie zu erweckenden Leidenſchaften hat- te, und widerſpricht ſich ſelbſt. Denn ich habe ſchon gezeigt, daß die Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich iſt, und daß der Böſewicht, wenn es möglich wäre, daß er unſere Furcht erregen könne, auch noth- wendig unſer Mitleid erregen müßte. Da er aber dieſes, wie Corneille ſelbſt zugeſteht, nicht kann, ſo kann er auch jenes nicht, und bleibt gänzlich ungeſchickt, die Abſicht der Tragödie erreichen zu helfen. Ja Ariſtoteles hält ihn hierzu noch für ungeſchickter, als den ganz tu- gendhaften Mann; denn er will ausdrücklich, Falls man den Held aus der mittlern Gattung nicht haben könne, daß man ihn eher beſſer als ſchlimmer wählen ſolle. Die Urſache iſt klar: ein Menſch kann ſehr ſehr gut ſeyn, und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er ſich in ein un- abſehliches Unglück ſtürzet, das uns mit Mit- leid und Wehmuth erfüllet, ohne im geringſten gräßlich zu ſeyn, weil es die natürliche Folge ſeines Fehlers iſt. — Was Du Bos (*) von dem (*) Reflexions cr. T. I. Sect. XV.

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/245>, abgerufen am 23.04.2024.