Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

"bet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget.
"Wenn Felix seinem Eidam Polyeukt umkom-
"men läßt, so ist es nicht aus wüthendem Eifer
"gegen die Christen, der ihn uns verabscheu-
"ungswürdig machen würde, sondern blos aus
"kriechender Furchtsamkeit, die sich nicht ge-
"trauet, ihn in Gegenwart des Severus zu
"retten, vor dessen Hasse und Rache er in Sor-
"gen stehet. Man fasset also wohl einigen Un-
"willen gegen ihn, und mißbilliget sein Ver-
"fahren; doch überwiegt dieser Unwille nicht
"das Mitleid, welches wir für den Polyeukt
"empfinden, und verhindert auch nicht, daß
"ihn seine wunderbare Bekehrung, zum Schlusse
"des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zu-
"hörern aussöhnen sollte." Tragische Stümper,
denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten, und
selbst in Athen gegeben. Warum sollte es also
dem Aristoteles an einem Stücke, von ähnli-
cher Einrichtung, gefehlt haben, um daraus
eben so erleuchtet zu werden, als Corneille?
Possen! Die furchtsamen, schwanken, unent-
schlossenen Charaktere, wie Felix, sind in der-
gleichen Stücken ein Fehler mehr, und machen
sie noch oben darein ihrer Seits kalt und eckel,
ohne sie auf der andern Seite im geringsten we-
niger gräßlich zu machen. Denn, wie gesagt,
das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder
Abscheu, den sie erwecken: sondern in dem Un-

glücke
G g 3

„bet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget.
„Wenn Felix ſeinem Eidam Polyeukt umkom-
„men läßt, ſo iſt es nicht aus wüthendem Eifer
„gegen die Chriſten, der ihn uns verabſcheu-
„ungswürdig machen würde, ſondern blos aus
„kriechender Furchtſamkeit, die ſich nicht ge-
„trauet, ihn in Gegenwart des Severus zu
„retten, vor deſſen Haſſe und Rache er in Sor-
„gen ſtehet. Man faſſet alſo wohl einigen Un-
„willen gegen ihn, und mißbilliget ſein Ver-
„fahren; doch überwiegt dieſer Unwille nicht
„das Mitleid, welches wir für den Polyeukt
„empfinden, und verhindert auch nicht, daß
„ihn ſeine wunderbare Bekehrung, zum Schluſſe
„des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zu-
„hörern ausſöhnen ſollte.„ Tragiſche Stümper,
denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten, und
ſelbſt in Athen gegeben. Warum ſollte es alſo
dem Ariſtoteles an einem Stücke, von ähnli-
cher Einrichtung, gefehlt haben, um daraus
eben ſo erleuchtet zu werden, als Corneille?
Poſſen! Die furchtſamen, ſchwanken, unent-
ſchloſſenen Charaktere, wie Felix, ſind in der-
gleichen Stücken ein Fehler mehr, und machen
ſie noch oben darein ihrer Seits kalt und eckel,
ohne ſie auf der andern Seite im geringſten we-
niger gräßlich zu machen. Denn, wie geſagt,
das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder
Abſcheu, den ſie erwecken: ſondern in dem Un-

glücke
G g 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0243" n="237"/>
&#x201E;bet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget.<lb/>
&#x201E;Wenn Felix &#x017F;einem Eidam Polyeukt umkom-<lb/>
&#x201E;men läßt, &#x017F;o i&#x017F;t es nicht aus wüthendem Eifer<lb/>
&#x201E;gegen die Chri&#x017F;ten, der ihn uns verab&#x017F;cheu-<lb/>
&#x201E;ungswürdig machen würde, &#x017F;ondern blos aus<lb/>
&#x201E;kriechender Furcht&#x017F;amkeit, die &#x017F;ich nicht ge-<lb/>
&#x201E;trauet, ihn in Gegenwart des Severus zu<lb/>
&#x201E;retten, vor de&#x017F;&#x017F;en Ha&#x017F;&#x017F;e und Rache er in Sor-<lb/>
&#x201E;gen &#x017F;tehet. Man fa&#x017F;&#x017F;et al&#x017F;o wohl einigen Un-<lb/>
&#x201E;willen gegen ihn, und mißbilliget &#x017F;ein Ver-<lb/>
&#x201E;fahren; doch überwiegt die&#x017F;er Unwille nicht<lb/>
&#x201E;das Mitleid, welches wir für den Polyeukt<lb/>
&#x201E;empfinden, und verhindert auch nicht, daß<lb/>
&#x201E;ihn &#x017F;eine wunderbare Bekehrung, zum Schlu&#x017F;&#x017F;e<lb/>
&#x201E;des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zu-<lb/>
&#x201E;hörern aus&#x017F;öhnen &#x017F;ollte.&#x201E; Tragi&#x017F;che Stümper,<lb/>
denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten, und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t in Athen gegeben. Warum &#x017F;ollte es al&#x017F;o<lb/>
dem Ari&#x017F;toteles an einem Stücke, von ähnli-<lb/>
cher Einrichtung, gefehlt haben, um daraus<lb/>
eben &#x017F;o erleuchtet zu werden, als Corneille?<lb/>
Po&#x017F;&#x017F;en! Die furcht&#x017F;amen, &#x017F;chwanken, unent-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Charaktere, wie Felix, &#x017F;ind in der-<lb/>
gleichen Stücken ein Fehler mehr, und machen<lb/>
&#x017F;ie noch oben darein ihrer Seits kalt und eckel,<lb/>
ohne &#x017F;ie auf der andern Seite im gering&#x017F;ten we-<lb/>
niger gräßlich zu machen. Denn, wie ge&#x017F;agt,<lb/>
das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder<lb/>
Ab&#x017F;cheu, den &#x017F;ie erwecken: &#x017F;ondern in dem Un-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G g 3</fw><fw place="bottom" type="catch">glücke</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[237/0243] „bet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. „Wenn Felix ſeinem Eidam Polyeukt umkom- „men läßt, ſo iſt es nicht aus wüthendem Eifer „gegen die Chriſten, der ihn uns verabſcheu- „ungswürdig machen würde, ſondern blos aus „kriechender Furchtſamkeit, die ſich nicht ge- „trauet, ihn in Gegenwart des Severus zu „retten, vor deſſen Haſſe und Rache er in Sor- „gen ſtehet. Man faſſet alſo wohl einigen Un- „willen gegen ihn, und mißbilliget ſein Ver- „fahren; doch überwiegt dieſer Unwille nicht „das Mitleid, welches wir für den Polyeukt „empfinden, und verhindert auch nicht, daß „ihn ſeine wunderbare Bekehrung, zum Schluſſe „des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zu- „hörern ausſöhnen ſollte.„ Tragiſche Stümper, denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten, und ſelbſt in Athen gegeben. Warum ſollte es alſo dem Ariſtoteles an einem Stücke, von ähnli- cher Einrichtung, gefehlt haben, um daraus eben ſo erleuchtet zu werden, als Corneille? Poſſen! Die furchtſamen, ſchwanken, unent- ſchloſſenen Charaktere, wie Felix, ſind in der- gleichen Stücken ein Fehler mehr, und machen ſie noch oben darein ihrer Seits kalt und eckel, ohne ſie auf der andern Seite im geringſten we- niger gräßlich zu machen. Denn, wie geſagt, das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder Abſcheu, den ſie erwecken: ſondern in dem Un- glücke G g 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/243
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/243>, abgerufen am 19.04.2024.