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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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als tiefsinnige Engländer: der Braß von dem
Volke aber ist keines von beiden. --

Was will ich denn? Jch will blos sagen,
was die Franzosen gar wohl haben könnten, daß
sie das noch nicht haben: die wahre Tragödie.
Und warum noch nicht haben? -- Dazu hätte
sich der Herr von Voltaire selbst besser kennen
müssen, wenn er es hätte treffen wollen.

Jch meine: sie haben es noch nicht; weil sie
es schon lange gehabt zu haben glauben. Und
in diesem Glauben werden sie nun freylich durch
etwas bestärkt, das sie vorzüglich vor allen Völ-
kern haben; aber es ist keine Gabe der Natur:
durch ihre Eitelkeit.

Es geht mit den Nationen, wie mit einzeln
Menschen. -- Gottsched (man wird leicht be-
greifen, wie ich eben hier auf diesen falle,) galt
in seiner Jugend für einen Dichter, weil man
damals den Versmacher von dem Dichter noch
nicht zu unterscheiden wußte. Philosophie und
Critik setzten nach und nach diesen Unterschied
ins Helle: und wenn Gottsched mit dem Jahr-
hunderte nur hätte fortgehen wollen, wenn sich
seine Einsichten und sein Geschmack nur zugleich
mit den Einsichten und dem Geschmacke seines
Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen:
so hätte er vielleicht wirklich aus dem Versma-
cher ein Dichter werden können. Aber da er
sich schon so oft den größten Dichter hatte nen-

nen

als tiefſinnige Engländer: der Braß von dem
Volke aber iſt keines von beiden. —

Was will ich denn? Jch will blos ſagen,
was die Franzoſen gar wohl haben könnten, daß
ſie das noch nicht haben: die wahre Tragödie.
Und warum noch nicht haben? — Dazu hätte
ſich der Herr von Voltaire ſelbſt beſſer kennen
müſſen, wenn er es hätte treffen wollen.

Jch meine: ſie haben es noch nicht; weil ſie
es ſchon lange gehabt zu haben glauben. Und
in dieſem Glauben werden ſie nun freylich durch
etwas beſtärkt, das ſie vorzüglich vor allen Völ-
kern haben; aber es iſt keine Gabe der Natur:
durch ihre Eitelkeit.

Es geht mit den Nationen, wie mit einzeln
Menſchen. — Gottſched (man wird leicht be-
greifen, wie ich eben hier auf dieſen falle,) galt
in ſeiner Jugend für einen Dichter, weil man
damals den Versmacher von dem Dichter noch
nicht zu unterſcheiden wußte. Philoſophie und
Critik ſetzten nach und nach dieſen Unterſchied
ins Helle: und wenn Gottſched mit dem Jahr-
hunderte nur hätte fortgehen wollen, wenn ſich
ſeine Einſichten und ſein Geſchmack nur zugleich
mit den Einſichten und dem Geſchmacke ſeines
Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen:
ſo hätte er vielleicht wirklich aus dem Versma-
cher ein Dichter werden können. Aber da er
ſich ſchon ſo oft den größten Dichter hatte nen-

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[226/0232] als tiefſinnige Engländer: der Braß von dem Volke aber iſt keines von beiden. — Was will ich denn? Jch will blos ſagen, was die Franzoſen gar wohl haben könnten, daß ſie das noch nicht haben: die wahre Tragödie. Und warum noch nicht haben? — Dazu hätte ſich der Herr von Voltaire ſelbſt beſſer kennen müſſen, wenn er es hätte treffen wollen. Jch meine: ſie haben es noch nicht; weil ſie es ſchon lange gehabt zu haben glauben. Und in dieſem Glauben werden ſie nun freylich durch etwas beſtärkt, das ſie vorzüglich vor allen Völ- kern haben; aber es iſt keine Gabe der Natur: durch ihre Eitelkeit. Es geht mit den Nationen, wie mit einzeln Menſchen. — Gottſched (man wird leicht be- greifen, wie ich eben hier auf dieſen falle,) galt in ſeiner Jugend für einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter noch nicht zu unterſcheiden wußte. Philoſophie und Critik ſetzten nach und nach dieſen Unterſchied ins Helle: und wenn Gottſched mit dem Jahr- hunderte nur hätte fortgehen wollen, wenn ſich ſeine Einſichten und ſein Geſchmack nur zugleich mit den Einſichten und dem Geſchmacke ſeines Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen: ſo hätte er vielleicht wirklich aus dem Versma- cher ein Dichter werden können. Aber da er ſich ſchon ſo oft den größten Dichter hatte nen- nen

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/232>, abgerufen am 26.04.2024.