Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

"erdulden müssen, gar nicht in Vergleichung
"kommen?" Nun das ist wahr; diese Erklä-
rung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens
gemacht haben. Er fand sie fast mit den nehm-
lichen Worten bey einem Stoiker, der immer
ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm
indeß einzuwenden, daß das Gefühl unsers ei-
genen Elendes nicht viel Mitleid neben sich dul-
det; daß folglich bey dem Elenden, dessen Mit-
leid nicht zu erregen ist, die Reinigung oder Lin-
derung seiner Betrübniß durch das Mitleid nicht
erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es
sagt, gelten lassen. Nur fragen muß ich: wie
viel er nun damit gesagt? Ob er im geringsten
mehr damit gesagt, als, daß das Mitleid un-
sere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre
doch nur kaum der vierte Theil der Foderung
des Aristoteles. Denn wenn Aristoteles be-
hauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht
errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen:
wer sieht nicht, daß dieses weit mehr sagt, als
Dacier zu erklären für gut befunden? Denn,
nach den verschiedenen Combinationen der hier
vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den
Sinn des Aristoteles ganz erschöpfen will, stück-
weise zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser
Mitleid, 2. wie die tragische Furcht unsere
Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere
Furcht, und 4. wie die tragische Furcht unser

Mit-

„erdulden müſſen, gar nicht in Vergleichung
„kommen?„ Nun das iſt wahr; dieſe Erklä-
rung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens
gemacht haben. Er fand ſie faſt mit den nehm-
lichen Worten bey einem Stoiker, der immer
ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm
indeß einzuwenden, daß das Gefühl unſers ei-
genen Elendes nicht viel Mitleid neben ſich dul-
det; daß folglich bey dem Elenden, deſſen Mit-
leid nicht zu erregen iſt, die Reinigung oder Lin-
derung ſeiner Betrübniß durch das Mitleid nicht
erfolgen kann: will ich ihm alles, ſo wie er es
ſagt, gelten laſſen. Nur fragen muß ich: wie
viel er nun damit geſagt? Ob er im geringſten
mehr damit geſagt, als, daß das Mitleid un-
ſere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre
doch nur kaum der vierte Theil der Foderung
des Ariſtoteles. Denn wenn Ariſtoteles be-
hauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht
errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen:
wer ſieht nicht, daß dieſes weit mehr ſagt, als
Dacier zu erklären für gut befunden? Denn,
nach den verſchiedenen Combinationen der hier
vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den
Sinn des Ariſtoteles ganz erſchöpfen will, ſtück-
weiſe zeigen, 1. wie das tragiſche Mitleid unſer
Mitleid, 2. wie die tragiſche Furcht unſere
Furcht, 3. wie das tragiſche Mitleid unſere
Furcht, und 4. wie die tragiſche Furcht unſer

Mit-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0212" n="206"/>
&#x201E;erdulden mü&#x017F;&#x017F;en, gar nicht in Vergleichung<lb/>
&#x201E;kommen?&#x201E; Nun das i&#x017F;t wahr; die&#x017F;e Erklä-<lb/>
rung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens<lb/>
gemacht haben. Er fand &#x017F;ie fa&#x017F;t mit den nehm-<lb/>
lichen Worten bey einem Stoiker, der immer<lb/>
ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm<lb/>
indeß einzuwenden, daß das Gefühl un&#x017F;ers ei-<lb/>
genen Elendes nicht viel Mitleid neben &#x017F;ich dul-<lb/>
det; daß folglich bey dem Elenden, de&#x017F;&#x017F;en Mit-<lb/>
leid nicht zu erregen i&#x017F;t, die Reinigung oder Lin-<lb/>
derung &#x017F;einer Betrübniß durch das Mitleid nicht<lb/>
erfolgen kann: will ich ihm alles, &#x017F;o wie er es<lb/>
&#x017F;agt, gelten la&#x017F;&#x017F;en. Nur fragen muß ich: wie<lb/>
viel er nun damit ge&#x017F;agt? Ob er im gering&#x017F;ten<lb/>
mehr damit ge&#x017F;agt, als, daß das Mitleid un-<lb/>
&#x017F;ere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre<lb/>
doch nur kaum der vierte Theil der Foderung<lb/>
des Ari&#x017F;toteles. Denn wenn Ari&#x017F;toteles be-<lb/>
hauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht<lb/>
errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen:<lb/>
wer &#x017F;ieht nicht, daß die&#x017F;es weit mehr &#x017F;agt, als<lb/>
Dacier zu erklären für gut befunden? Denn,<lb/>
nach den ver&#x017F;chiedenen Combinationen der hier<lb/>
vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den<lb/>
Sinn des Ari&#x017F;toteles ganz er&#x017F;chöpfen will, &#x017F;tück-<lb/>
wei&#x017F;e zeigen, 1. wie das tragi&#x017F;che Mitleid un&#x017F;er<lb/>
Mitleid, 2. wie die tragi&#x017F;che Furcht un&#x017F;ere<lb/>
Furcht, 3. wie das tragi&#x017F;che Mitleid un&#x017F;ere<lb/>
Furcht, und 4. wie die tragi&#x017F;che Furcht un&#x017F;er<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Mit-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[206/0212] „erdulden müſſen, gar nicht in Vergleichung „kommen?„ Nun das iſt wahr; dieſe Erklä- rung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens gemacht haben. Er fand ſie faſt mit den nehm- lichen Worten bey einem Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indeß einzuwenden, daß das Gefühl unſers ei- genen Elendes nicht viel Mitleid neben ſich dul- det; daß folglich bey dem Elenden, deſſen Mit- leid nicht zu erregen iſt, die Reinigung oder Lin- derung ſeiner Betrübniß durch das Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, ſo wie er es ſagt, gelten laſſen. Nur fragen muß ich: wie viel er nun damit geſagt? Ob er im geringſten mehr damit geſagt, als, daß das Mitleid un- ſere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre doch nur kaum der vierte Theil der Foderung des Ariſtoteles. Denn wenn Ariſtoteles be- hauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer ſieht nicht, daß dieſes weit mehr ſagt, als Dacier zu erklären für gut befunden? Denn, nach den verſchiedenen Combinationen der hier vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den Sinn des Ariſtoteles ganz erſchöpfen will, ſtück- weiſe zeigen, 1. wie das tragiſche Mitleid unſer Mitleid, 2. wie die tragiſche Furcht unſere Furcht, 3. wie das tragiſche Mitleid unſere Furcht, und 4. wie die tragiſche Furcht unſer Mit-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/212
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/212>, abgerufen am 24.11.2024.