Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine
blos vernachläßigte Wortfügung. Kurz, die
Sache ist diese: Aristoteles bemerkte, daß das
Mitleid nothwendig ein vorhandenes Uebel er-
fodere; daß wir längst vergangene oder fern in
der Zukunft bevorstehende Uebel entweder gar
nicht, oder doch bey weitem nicht so stark bemit-
leiden können, als ein anwesendes; daß es folg-
lich nothwendig sey, die Handlung, durch welche
wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergan-
gen, das ist, nicht in der erzehlenden Form,
sondern als gegenwärtig, das ist, in der dra-
matischen Form, nachzuahmen. Und nur die-
ses, daß unser Mitleid durch die Erzehlung
wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und
allein durch die gegenwärtige Anschauung erre-
get wird, nur dieses berechtigte ihn, in der Er-
klärung anstatt der Form der Sache, die Sache
gleich selbst zu setzen, weil diese Sache nur dieser
einzigen Form fähig ist. Hätte er es für möglich
gehalten, daß unser Mitleid auch durch die Er-
zehlung erreget werden könne: so würde es al-
lerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen
seyn, wenn er gesagt hätte, "nicht durch die
"Erzehlung, sondern durch Mitleid und Furcht."
Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und
Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige
dramatische Form zu erregen sey: so konnte er
sich diesen Sprung, der Kürze wegen, erlau-

ben.
B b 3

dieſem Wie gelegen; denn es iſt wirklich keine
blos vernachläßigte Wortfügung. Kurz, die
Sache iſt dieſe: Ariſtoteles bemerkte, daß das
Mitleid nothwendig ein vorhandenes Uebel er-
fodere; daß wir längſt vergangene oder fern in
der Zukunft bevorſtehende Uebel entweder gar
nicht, oder doch bey weitem nicht ſo ſtark bemit-
leiden können, als ein anweſendes; daß es folg-
lich nothwendig ſey, die Handlung, durch welche
wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergan-
gen, das iſt, nicht in der erzehlenden Form,
ſondern als gegenwärtig, das iſt, in der dra-
matiſchen Form, nachzuahmen. Und nur die-
ſes, daß unſer Mitleid durch die Erzehlung
wenig oder gar nicht, ſondern faſt einzig und
allein durch die gegenwärtige Anſchauung erre-
get wird, nur dieſes berechtigte ihn, in der Er-
klärung anſtatt der Form der Sache, die Sache
gleich ſelbſt zu ſetzen, weil dieſe Sache nur dieſer
einzigen Form fähig iſt. Hätte er es für möglich
gehalten, daß unſer Mitleid auch durch die Er-
zehlung erreget werden könne: ſo würde es al-
lerdings ein ſehr fehlerhafter Sprung geweſen
ſeyn, wenn er geſagt hätte, „nicht durch die
„Erzehlung, ſondern durch Mitleid und Furcht.„
Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und
Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige
dramatiſche Form zu erregen ſey: ſo konnte er
ſich dieſen Sprung, der Kürze wegen, erlau-

ben.
B b 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0203" n="197"/>
die&#x017F;em Wie gelegen; denn es i&#x017F;t wirklich keine<lb/>
blos vernachläßigte Wortfügung. Kurz, die<lb/>
Sache i&#x017F;t die&#x017F;e: Ari&#x017F;toteles bemerkte, daß das<lb/>
Mitleid nothwendig ein vorhandenes Uebel er-<lb/>
fodere; daß wir läng&#x017F;t vergangene oder fern in<lb/>
der Zukunft bevor&#x017F;tehende Uebel entweder gar<lb/>
nicht, oder doch bey weitem nicht &#x017F;o &#x017F;tark bemit-<lb/>
leiden können, als ein anwe&#x017F;endes; daß es folg-<lb/>
lich nothwendig &#x017F;ey, die Handlung, durch welche<lb/>
wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergan-<lb/>
gen, das i&#x017F;t, nicht in der erzehlenden Form,<lb/>
&#x017F;ondern als gegenwärtig, das i&#x017F;t, in der dra-<lb/>
mati&#x017F;chen Form, nachzuahmen. Und nur die-<lb/>
&#x017F;es, daß un&#x017F;er Mitleid durch die Erzehlung<lb/>
wenig oder gar nicht, &#x017F;ondern fa&#x017F;t einzig und<lb/>
allein durch die gegenwärtige An&#x017F;chauung erre-<lb/>
get wird, nur die&#x017F;es berechtigte ihn, in der Er-<lb/>
klärung an&#x017F;tatt der Form der Sache, die Sache<lb/>
gleich &#x017F;elb&#x017F;t zu &#x017F;etzen, weil die&#x017F;e Sache nur die&#x017F;er<lb/>
einzigen Form fähig i&#x017F;t. Hätte er es für möglich<lb/>
gehalten, daß un&#x017F;er Mitleid auch durch die Er-<lb/>
zehlung erreget werden könne: &#x017F;o würde es al-<lb/>
lerdings ein &#x017F;ehr fehlerhafter Sprung gewe&#x017F;en<lb/>
&#x017F;eyn, wenn er ge&#x017F;agt hätte, &#x201E;nicht durch die<lb/>
&#x201E;Erzehlung, &#x017F;ondern durch Mitleid und Furcht.&#x201E;<lb/>
Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und<lb/>
Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige<lb/>
dramati&#x017F;che Form zu erregen &#x017F;ey: &#x017F;o konnte er<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;en Sprung, der Kürze wegen, erlau-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B b 3</fw><fw place="bottom" type="catch">ben.</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[197/0203] dieſem Wie gelegen; denn es iſt wirklich keine blos vernachläßigte Wortfügung. Kurz, die Sache iſt dieſe: Ariſtoteles bemerkte, daß das Mitleid nothwendig ein vorhandenes Uebel er- fodere; daß wir längſt vergangene oder fern in der Zukunft bevorſtehende Uebel entweder gar nicht, oder doch bey weitem nicht ſo ſtark bemit- leiden können, als ein anweſendes; daß es folg- lich nothwendig ſey, die Handlung, durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergan- gen, das iſt, nicht in der erzehlenden Form, ſondern als gegenwärtig, das iſt, in der dra- matiſchen Form, nachzuahmen. Und nur die- ſes, daß unſer Mitleid durch die Erzehlung wenig oder gar nicht, ſondern faſt einzig und allein durch die gegenwärtige Anſchauung erre- get wird, nur dieſes berechtigte ihn, in der Er- klärung anſtatt der Form der Sache, die Sache gleich ſelbſt zu ſetzen, weil dieſe Sache nur dieſer einzigen Form fähig iſt. Hätte er es für möglich gehalten, daß unſer Mitleid auch durch die Er- zehlung erreget werden könne: ſo würde es al- lerdings ein ſehr fehlerhafter Sprung geweſen ſeyn, wenn er geſagt hätte, „nicht durch die „Erzehlung, ſondern durch Mitleid und Furcht.„ Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige dramatiſche Form zu erregen ſey: ſo konnte er ſich dieſen Sprung, der Kürze wegen, erlau- ben. B b 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/203
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/203>, abgerufen am 28.03.2024.