müßten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wußten, längst gefunden haben. Doch die Dichtkunst war ge- rade diejenige von seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekümmerten. Dabey fehl- ten ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschlüsse wenigstens nicht fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Mei- sterstücke desselben nicht.
Die authentische Erklärung dieser Furcht, welche Aristoteles dem tragischen Mitleid bey- füget, findet sich in dem fünften und achten Ka- pitel des zweyten Buchs seiner Rhetorik. Es war gar nicht schwer, sich dieser Kapitel zu er- innern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner sei- ner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der sich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne sie einsahen, daß diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sey, hätten noch ein wich- tiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ur- sache nehmlich, warum der Stagirit dem Mit- leid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften, beygesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich möchte wohl hören, was sie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man sie fragte: war- um z. E. die Tragödie nicht eben so wohl Mit-
leid
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müßten die Scholaſtiker, welche die Schriften des Ariſtoteles an den Fingern wußten, längſt gefunden haben. Doch die Dichtkunſt war ge- rade diejenige von ſeinen Schriften, um die ſie ſich am wenigſten bekümmerten. Dabey fehl- ten ihnen andere Kenntniſſe, ohne welche jene Aufſchlüſſe wenigſtens nicht fruchtbar werden konnten: ſie kannten das Theater und die Mei- ſterſtücke deſſelben nicht.
Die authentiſche Erklärung dieſer Furcht, welche Ariſtoteles dem tragiſchen Mitleid bey- füget, findet ſich in dem fünften und achten Ka- pitel des zweyten Buchs ſeiner Rhetorik. Es war gar nicht ſchwer, ſich dieſer Kapitel zu er- innern; gleichwohl hat ſich vielleicht keiner ſei- ner Ausleger ihrer erinnert, wenigſtens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der ſich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne ſie einſahen, daß dieſe Furcht nicht das mitleidige Schrecken ſey, hätten noch ein wich- tiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ur- ſache nehmlich, warum der Stagirit dem Mit- leid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenſchaft, und warum nicht mehrere Leidenſchaften, beygeſellet habe. Von dieſer Urſache wiſſen ſie nichts, und ich möchte wohl hören, was ſie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man ſie fragte: war- um z. E. die Tragödie nicht eben ſo wohl Mit-
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müßten die Scholaſtiker, welche die Schriften
des Ariſtoteles an den Fingern wußten, längſt
gefunden haben. Doch die Dichtkunſt war ge-
rade diejenige von ſeinen Schriften, um die ſie
ſich am wenigſten bekümmerten. Dabey fehl-
ten ihnen andere Kenntniſſe, ohne welche jene
Aufſchlüſſe wenigſtens nicht fruchtbar werden
konnten: ſie kannten das Theater und die Mei-
ſterſtücke deſſelben nicht.
Die authentiſche Erklärung dieſer Furcht,
welche Ariſtoteles dem tragiſchen Mitleid bey-
füget, findet ſich in dem fünften und achten Ka-
pitel des zweyten Buchs ſeiner Rhetorik. Es
war gar nicht ſchwer, ſich dieſer Kapitel zu er-
innern; gleichwohl hat ſich vielleicht keiner ſei-
ner Ausleger ihrer erinnert, wenigſtens hat
keiner den Gebrauch davon gemacht, der ſich
davon machen läßt. Denn auch die, welche
ohne ſie einſahen, daß dieſe Furcht nicht das
mitleidige Schrecken ſey, hätten noch ein wich-
tiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ur-
ſache nehmlich, warum der Stagirit dem Mit-
leid hier die Furcht, und warum nur die Furcht,
warum keine andere Leidenſchaft, und warum
nicht mehrere Leidenſchaften, beygeſellet habe.
Von dieſer Urſache wiſſen ſie nichts, und ich
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/185>, abgerufen am 22.11.2024.
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