Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen,
und Gefahr läuft, von ihm verlassen zu wer-
den, war zu einer Hauptrolle ehedem sehr unge-
schickt. --

Der eigentliche und grobe Fehler, den der
Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick-
lung und den Charakter des Demea. Demea
ist der mürrische strenge Vater, und dieser soll
seinen Charakter auf einmal völlig verändern.
Das ist, mit Erlaubniß des Herrn von Vol-
taire, nicht wahr. Demea behauptet seinen
Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Ser-
vatur autem per totam fabulam mitis
Micio, saevus Demea, Leno avarus
u. s. w.
Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr
von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn
wir Deutsche nur glauben dürfen, daß Dona-
tus den Terenz fleißiger gelesen und besser ver-
standen, als Voltaire. Doch es ist ja von kei-
nem verlohrnen Stücke die Rede; es ist noch
da; man lese selbst.

Nachdem Micio den Demea durch die triftig-
sten Vorstellungen zu besänftigen gesucht, bittet
er ihn, wenigstens auf heute sich seines Aeger-
nisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu
seyn. Endlich bringt er ihn auch so weit; heute
will Demea alles gut seyn lassen; aber morgen,
bey früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit
ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder hal-

ten,

ihrem Liebhaber zu tief in das Waſſer gegangen,
und Gefahr läuft, von ihm verlaſſen zu wer-
den, war zu einer Hauptrolle ehedem ſehr unge-
ſchickt. —

Der eigentliche und grobe Fehler, den der
Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick-
lung und den Charakter des Demea. Demea
iſt der mürriſche ſtrenge Vater, und dieſer ſoll
ſeinen Charakter auf einmal völlig verändern.
Das iſt, mit Erlaubniß des Herrn von Vol-
taire, nicht wahr. Demea behauptet ſeinen
Charakter bis ans Ende. Donatus ſagt: Ser-
vatur autem per totam fabulam mitis
Micio, ſævus Demea, Leno avarus
u. ſ. w.
Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr
von Voltaire ſagen. Nach Belieben; wenn
wir Deutſche nur glauben dürfen, daß Dona-
tus den Terenz fleißiger geleſen und beſſer ver-
ſtanden, als Voltaire. Doch es iſt ja von kei-
nem verlohrnen Stücke die Rede; es iſt noch
da; man leſe ſelbſt.

Nachdem Micio den Demea durch die triftig-
ſten Vorſtellungen zu beſänftigen geſucht, bittet
er ihn, wenigſtens auf heute ſich ſeines Aeger-
niſſes zu entſchlagen, wenigſtens heute luſtig zu
ſeyn. Endlich bringt er ihn auch ſo weit; heute
will Demea alles gut ſeyn laſſen; aber morgen,
bey früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit
ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder hal-

ten,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0152" n="146"/>
ihrem Liebhaber zu tief in das Wa&#x017F;&#x017F;er gegangen,<lb/>
und Gefahr läuft, von ihm verla&#x017F;&#x017F;en zu wer-<lb/>
den, war zu einer Hauptrolle ehedem &#x017F;ehr unge-<lb/>
&#x017F;chickt. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Der eigentliche und grobe Fehler, den der<lb/>
Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick-<lb/>
lung und den Charakter des Demea. Demea<lb/>
i&#x017F;t der mürri&#x017F;che &#x017F;trenge Vater, und die&#x017F;er &#x017F;oll<lb/>
&#x017F;einen Charakter auf einmal völlig verändern.<lb/>
Das i&#x017F;t, mit Erlaubniß des Herrn von Vol-<lb/>
taire, nicht wahr. Demea behauptet &#x017F;einen<lb/>
Charakter bis ans Ende. Donatus &#x017F;agt: <hi rendition="#aq">Ser-<lb/>
vatur autem per totam fabulam mitis<lb/>
Micio, &#x017F;ævus Demea, Leno avarus</hi> u. &#x017F;. w.<lb/>
Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr<lb/>
von Voltaire &#x017F;agen. Nach Belieben; wenn<lb/>
wir Deut&#x017F;che nur glauben dürfen, daß Dona-<lb/>
tus den Terenz fleißiger gele&#x017F;en und be&#x017F;&#x017F;er ver-<lb/>
&#x017F;tanden, als Voltaire. Doch es i&#x017F;t ja von kei-<lb/>
nem verlohrnen Stücke die Rede; es i&#x017F;t noch<lb/>
da; man le&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Nachdem Micio den Demea durch die triftig-<lb/>
&#x017F;ten Vor&#x017F;tellungen zu be&#x017F;änftigen ge&#x017F;ucht, bittet<lb/>
er ihn, wenig&#x017F;tens auf heute &#x017F;ich &#x017F;eines Aeger-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;es zu ent&#x017F;chlagen, wenig&#x017F;tens heute lu&#x017F;tig zu<lb/>
&#x017F;eyn. Endlich bringt er ihn auch &#x017F;o weit; heute<lb/>
will Demea alles gut &#x017F;eyn la&#x017F;&#x017F;en; aber morgen,<lb/>
bey früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit<lb/>
ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder hal-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ten,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[146/0152] ihrem Liebhaber zu tief in das Waſſer gegangen, und Gefahr läuft, von ihm verlaſſen zu wer- den, war zu einer Hauptrolle ehedem ſehr unge- ſchickt. — Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick- lung und den Charakter des Demea. Demea iſt der mürriſche ſtrenge Vater, und dieſer ſoll ſeinen Charakter auf einmal völlig verändern. Das iſt, mit Erlaubniß des Herrn von Vol- taire, nicht wahr. Demea behauptet ſeinen Charakter bis ans Ende. Donatus ſagt: Ser- vatur autem per totam fabulam mitis Micio, ſævus Demea, Leno avarus u. ſ. w. Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr von Voltaire ſagen. Nach Belieben; wenn wir Deutſche nur glauben dürfen, daß Dona- tus den Terenz fleißiger geleſen und beſſer ver- ſtanden, als Voltaire. Doch es iſt ja von kei- nem verlohrnen Stücke die Rede; es iſt noch da; man leſe ſelbſt. Nachdem Micio den Demea durch die triftig- ſten Vorſtellungen zu beſänftigen geſucht, bittet er ihn, wenigſtens auf heute ſich ſeines Aeger- niſſes zu entſchlagen, wenigſtens heute luſtig zu ſeyn. Endlich bringt er ihn auch ſo weit; heute will Demea alles gut ſeyn laſſen; aber morgen, bey früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder hal- ten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/152
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/152>, abgerufen am 19.04.2024.