ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen, und Gefahr läuft, von ihm verlassen zu wer- den, war zu einer Hauptrolle ehedem sehr unge- schickt. --
Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick- lung und den Charakter des Demea. Demea ist der mürrische strenge Vater, und dieser soll seinen Charakter auf einmal völlig verändern. Das ist, mit Erlaubniß des Herrn von Vol- taire, nicht wahr. Demea behauptet seinen Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Ser- vatur autem per totam fabulam mitis Micio, saevus Demea, Leno avarus u. s. w. Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn wir Deutsche nur glauben dürfen, daß Dona- tus den Terenz fleißiger gelesen und besser ver- standen, als Voltaire. Doch es ist ja von kei- nem verlohrnen Stücke die Rede; es ist noch da; man lese selbst.
Nachdem Micio den Demea durch die triftig- sten Vorstellungen zu besänftigen gesucht, bittet er ihn, wenigstens auf heute sich seines Aeger- nisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu seyn. Endlich bringt er ihn auch so weit; heute will Demea alles gut seyn lassen; aber morgen, bey früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder hal-
ten,
ihrem Liebhaber zu tief in das Waſſer gegangen, und Gefahr läuft, von ihm verlaſſen zu wer- den, war zu einer Hauptrolle ehedem ſehr unge- ſchickt. —
Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick- lung und den Charakter des Demea. Demea iſt der mürriſche ſtrenge Vater, und dieſer ſoll ſeinen Charakter auf einmal völlig verändern. Das iſt, mit Erlaubniß des Herrn von Vol- taire, nicht wahr. Demea behauptet ſeinen Charakter bis ans Ende. Donatus ſagt: Ser- vatur autem per totam fabulam mitis Micio, ſævus Demea, Leno avarus u. ſ. w. Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr von Voltaire ſagen. Nach Belieben; wenn wir Deutſche nur glauben dürfen, daß Dona- tus den Terenz fleißiger geleſen und beſſer ver- ſtanden, als Voltaire. Doch es iſt ja von kei- nem verlohrnen Stücke die Rede; es iſt noch da; man leſe ſelbſt.
Nachdem Micio den Demea durch die triftig- ſten Vorſtellungen zu beſänftigen geſucht, bittet er ihn, wenigſtens auf heute ſich ſeines Aeger- niſſes zu entſchlagen, wenigſtens heute luſtig zu ſeyn. Endlich bringt er ihn auch ſo weit; heute will Demea alles gut ſeyn laſſen; aber morgen, bey früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder hal-
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ihrem Liebhaber zu tief in das Waſſer gegangen,
und Gefahr läuft, von ihm verlaſſen zu wer-
den, war zu einer Hauptrolle ehedem ſehr unge-
ſchickt. —
Der eigentliche und grobe Fehler, den der
Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick-
lung und den Charakter des Demea. Demea
iſt der mürriſche ſtrenge Vater, und dieſer ſoll
ſeinen Charakter auf einmal völlig verändern.
Das iſt, mit Erlaubniß des Herrn von Vol-
taire, nicht wahr. Demea behauptet ſeinen
Charakter bis ans Ende. Donatus ſagt: Ser-
vatur autem per totam fabulam mitis
Micio, ſævus Demea, Leno avarus u. ſ. w.
Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr
von Voltaire ſagen. Nach Belieben; wenn
wir Deutſche nur glauben dürfen, daß Dona-
tus den Terenz fleißiger geleſen und beſſer ver-
ſtanden, als Voltaire. Doch es iſt ja von kei-
nem verlohrnen Stücke die Rede; es iſt noch
da; man leſe ſelbſt.
Nachdem Micio den Demea durch die triftig-
ſten Vorſtellungen zu beſänftigen geſucht, bittet
er ihn, wenigſtens auf heute ſich ſeines Aeger-
niſſes zu entſchlagen, wenigſtens heute luſtig zu
ſeyn. Endlich bringt er ihn auch ſo weit; heute
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/152>, abgerufen am 21.11.2024.
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