Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

nen mir vollkommen nach dem Leben; solche
Müßiggänger, solche in ihre Kinder vernarrte
Mütter, solche schalwitzige Besuche, und solche
dumme Pelzhändler sehen wir alle Tage. So
denkt, so lebt, so handelt der Mittelstand unter
den Deutschen. Der Dichter hat seine Pflicht
gethan, er hat uns geschildert, wie wir sind.
Allein ich gähnte vor Langeweile. -- Ich las
darauf den Triumph der guten Frauen. Wel-
che Unterschied! Hier finde ich Leben in den
Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, äch-
ten Witz in ihren Gesprächen, und den Ton ei-
ner feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgan-
ge."

Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe
Kunstrichter daran bemerkt hat, ist der, daß die
Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und
leider, muß man diesen zugestehen. Wir sind
aber in unsern Lustspielen schon zu sehr an frem-
de, und besonders an französische Sitten ge-
wöhnt, als daß er eine besonders üble Wirkung
auf uns haben könnte.

"Nikander, heißt es, ist ein französischer
Abentheurer, der auf Eroberungen ausgeht,
allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ern-
ste gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit
zu stürzen, aller Frauen Verführer und aller

Män-

nen mir vollkommen nach dem Leben; ſolche
Muͤßiggaͤnger, ſolche in ihre Kinder vernarrte
Muͤtter, ſolche ſchalwitzige Beſuche, und ſolche
dumme Pelzhaͤndler ſehen wir alle Tage. So
denkt, ſo lebt, ſo handelt der Mittelſtand unter
den Deutſchen. Der Dichter hat ſeine Pflicht
gethan, er hat uns geſchildert, wie wir ſind.
Allein ich gaͤhnte vor Langeweile. — Ich las
darauf den Triumph der guten Frauen. Wel-
che Unterſchied! Hier finde ich Leben in den
Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, aͤch-
ten Witz in ihren Geſpraͤchen, und den Ton ei-
ner feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgan-
ge.〟

Der vornehmſte Fehler, den ebenderſelbe
Kunſtrichter daran bemerkt hat, iſt der, daß die
Charaktere an ſich ſelbſt nicht deutſch ſind. Und
leider, muß man dieſen zugeſtehen. Wir ſind
aber in unſern Luſtſpielen ſchon zu ſehr an frem-
de, und beſonders an franzoͤſiſche Sitten ge-
woͤhnt, als daß er eine beſonders uͤble Wirkung
auf uns haben koͤnnte.

〟Nikander, heißt es, iſt ein franzoͤſiſcher
Abentheurer, der auf Eroberungen ausgeht,
allem Frauenzimmer nachſtellt, keinem im Ern-
ſte gewogen iſt, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit
zu ſtuͤrzen, aller Frauen Verfuͤhrer und aller

Maͤn-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p>
          <cit>
            <quote><pb facs="#f0426" n="412"/>
nen mir vollkommen nach dem Leben; &#x017F;olche<lb/>
Mu&#x0364;ßigga&#x0364;nger, &#x017F;olche in ihre Kinder vernarrte<lb/>
Mu&#x0364;tter, &#x017F;olche &#x017F;chalwitzige Be&#x017F;uche, und &#x017F;olche<lb/>
dumme Pelzha&#x0364;ndler &#x017F;ehen wir alle Tage. So<lb/>
denkt, &#x017F;o lebt, &#x017F;o handelt der Mittel&#x017F;tand unter<lb/>
den Deut&#x017F;chen. Der Dichter hat &#x017F;eine Pflicht<lb/>
gethan, er hat uns ge&#x017F;childert, wie wir &#x017F;ind.<lb/>
Allein ich ga&#x0364;hnte vor Langeweile. &#x2014; Ich las<lb/>
darauf den Triumph der guten Frauen. Wel-<lb/>
che Unter&#x017F;chied! Hier finde ich Leben in den<lb/>
Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, a&#x0364;ch-<lb/>
ten Witz in ihren Ge&#x017F;pra&#x0364;chen, und den Ton ei-<lb/>
ner feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgan-<lb/>
ge.&#x301F;</quote>
          </cit>
        </p><lb/>
        <p>Der vornehm&#x017F;te Fehler, den ebender&#x017F;elbe<lb/>
Kun&#x017F;trichter daran bemerkt hat, i&#x017F;t der, daß die<lb/>
Charaktere an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nicht deut&#x017F;ch &#x017F;ind. Und<lb/>
leider, muß man die&#x017F;en zuge&#x017F;tehen. Wir &#x017F;ind<lb/>
aber in un&#x017F;ern Lu&#x017F;t&#x017F;pielen &#x017F;chon zu &#x017F;ehr an frem-<lb/>
de, und be&#x017F;onders an franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Sitten ge-<lb/>
wo&#x0364;hnt, als daß er eine be&#x017F;onders u&#x0364;ble Wirkung<lb/>
auf uns haben ko&#x0364;nnte.</p><lb/>
        <p><cit><quote>&#x301F;Nikander,</quote></cit> heißt es, <cit><quote>i&#x017F;t ein franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;cher<lb/>
Abentheurer, der auf Eroberungen ausgeht,<lb/>
allem Frauenzimmer nach&#x017F;tellt, keinem im Ern-<lb/>
&#x017F;te gewogen i&#x017F;t, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit<lb/>
zu &#x017F;tu&#x0364;rzen, aller Frauen Verfu&#x0364;hrer und aller<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ma&#x0364;n-</fw><lb/></quote></cit></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[412/0426] nen mir vollkommen nach dem Leben; ſolche Muͤßiggaͤnger, ſolche in ihre Kinder vernarrte Muͤtter, ſolche ſchalwitzige Beſuche, und ſolche dumme Pelzhaͤndler ſehen wir alle Tage. So denkt, ſo lebt, ſo handelt der Mittelſtand unter den Deutſchen. Der Dichter hat ſeine Pflicht gethan, er hat uns geſchildert, wie wir ſind. Allein ich gaͤhnte vor Langeweile. — Ich las darauf den Triumph der guten Frauen. Wel- che Unterſchied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, aͤch- ten Witz in ihren Geſpraͤchen, und den Ton ei- ner feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgan- ge.〟 Der vornehmſte Fehler, den ebenderſelbe Kunſtrichter daran bemerkt hat, iſt der, daß die Charaktere an ſich ſelbſt nicht deutſch ſind. Und leider, muß man dieſen zugeſtehen. Wir ſind aber in unſern Luſtſpielen ſchon zu ſehr an frem- de, und beſonders an franzoͤſiſche Sitten ge- woͤhnt, als daß er eine beſonders uͤble Wirkung auf uns haben koͤnnte. 〟Nikander, heißt es, iſt ein franzoͤſiſcher Abentheurer, der auf Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachſtellt, keinem im Ern- ſte gewogen iſt, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu ſtuͤrzen, aller Frauen Verfuͤhrer und aller Maͤn-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/426
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/426>, abgerufen am 24.11.2024.