höhern Vollkommenheit fähig wäre, und daß die Ergetzung einer kindischen Neugierde das geringste sey, worauf sie Anspruch mache. Er ließ seine Zuhörer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung eben so viel wis- sen, als nur immer ein Gott davon wissen konn- te; und versprach sich die Rührung, die er her- vorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es ge- schehen sollte. Folglich müßte den Kunstrich- tern hier eigentlich weiter nichts anstößig seyn, als nur dieses, daß er uns die nöthige Kenntniß des Vergangnen und des Zukünftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beyzubringen ge- sucht; daß er ein höheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Antheil nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieses hö- here Wesen sich geradezu an die Zuschauer wen- den lassen, wodurch die dramatische Gattung mit der erzehlenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann blos hierauf einschränk- ten, was wäre denn ihr Tadel? Ist uns das Nützliche und Nothwendige niemals willkom- men, als wenn es uns verstohlner Weise zuge- schanzt wird? Giebt es nicht Dinge, besonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn das In- teresse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, daß wir sie durch die Darzwischenkunft
eines
hoͤhern Vollkommenheit faͤhig waͤre, und daß die Ergetzung einer kindiſchen Neugierde das geringſte ſey, worauf ſie Anſpruch mache. Er ließ ſeine Zuhoͤrer alſo, ohne Bedenken, von der bevorſtehenden Handlung eben ſo viel wiſ- ſen, als nur immer ein Gott davon wiſſen konn- te; und verſprach ſich die Ruͤhrung, die er her- vorbringen wollte, nicht ſowohl von dem, was geſchehen ſollte, als von der Art, wie es ge- ſchehen ſollte. Folglich muͤßte den Kunſtrich- tern hier eigentlich weiter nichts anſtoͤßig ſeyn, als nur dieſes, daß er uns die noͤthige Kenntniß des Vergangnen und des Zukuͤnftigen nicht durch einen feinern Kunſtgriff beyzubringen ge- ſucht; daß er ein hoͤheres Weſen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Antheil nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieſes hoͤ- here Weſen ſich geradezu an die Zuſchauer wen- den laſſen, wodurch die dramatiſche Gattung mit der erzehlenden vermiſcht werde. Wenn ſie aber ihren Tadel ſodann blos hierauf einſchraͤnk- ten, was waͤre denn ihr Tadel? Iſt uns das Nuͤtzliche und Nothwendige niemals willkom- men, als wenn es uns verſtohlner Weiſe zuge- ſchanzt wird? Giebt es nicht Dinge, beſonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wiſſen kann? Und wenn das In- tereſſe auf ſolchen Dingen beruht, iſt es nicht beſſer, daß wir ſie durch die Darzwiſchenkunft
eines
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0397"n="383"/>
hoͤhern Vollkommenheit faͤhig waͤre, und daß<lb/>
die Ergetzung einer kindiſchen Neugierde das<lb/>
geringſte ſey, worauf ſie Anſpruch mache. Er<lb/>
ließ ſeine Zuhoͤrer alſo, ohne Bedenken, von<lb/>
der bevorſtehenden Handlung eben ſo viel wiſ-<lb/>ſen, als nur immer ein Gott davon wiſſen konn-<lb/>
te; und verſprach ſich die Ruͤhrung, die er her-<lb/>
vorbringen wollte, nicht ſowohl von dem, was<lb/>
geſchehen ſollte, als von der Art, wie es ge-<lb/>ſchehen ſollte. Folglich muͤßte den Kunſtrich-<lb/>
tern hier eigentlich weiter nichts anſtoͤßig ſeyn,<lb/>
als nur dieſes, daß er uns die noͤthige Kenntniß<lb/>
des Vergangnen und des Zukuͤnftigen nicht<lb/>
durch einen feinern Kunſtgriff beyzubringen ge-<lb/>ſucht; daß er ein hoͤheres Weſen, welches wohl<lb/>
noch dazu an der Handlung keinen Antheil<lb/>
nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieſes hoͤ-<lb/>
here Weſen ſich geradezu an die Zuſchauer wen-<lb/>
den laſſen, wodurch die dramatiſche Gattung<lb/>
mit der erzehlenden vermiſcht werde. Wenn ſie<lb/>
aber ihren Tadel ſodann blos hierauf einſchraͤnk-<lb/>
ten, was waͤre denn ihr Tadel? Iſt uns das<lb/>
Nuͤtzliche und Nothwendige niemals willkom-<lb/>
men, als wenn es uns verſtohlner Weiſe zuge-<lb/>ſchanzt wird? Giebt es nicht Dinge, beſonders<lb/>
in der Zukunft, die durchaus niemand anders<lb/>
als ein Gott wiſſen kann? Und wenn das In-<lb/>
tereſſe auf ſolchen Dingen beruht, iſt es nicht<lb/>
beſſer, daß wir ſie durch die Darzwiſchenkunft<lb/><fwplace="bottom"type="catch">eines</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[383/0397]
hoͤhern Vollkommenheit faͤhig waͤre, und daß
die Ergetzung einer kindiſchen Neugierde das
geringſte ſey, worauf ſie Anſpruch mache. Er
ließ ſeine Zuhoͤrer alſo, ohne Bedenken, von
der bevorſtehenden Handlung eben ſo viel wiſ-
ſen, als nur immer ein Gott davon wiſſen konn-
te; und verſprach ſich die Ruͤhrung, die er her-
vorbringen wollte, nicht ſowohl von dem, was
geſchehen ſollte, als von der Art, wie es ge-
ſchehen ſollte. Folglich muͤßte den Kunſtrich-
tern hier eigentlich weiter nichts anſtoͤßig ſeyn,
als nur dieſes, daß er uns die noͤthige Kenntniß
des Vergangnen und des Zukuͤnftigen nicht
durch einen feinern Kunſtgriff beyzubringen ge-
ſucht; daß er ein hoͤheres Weſen, welches wohl
noch dazu an der Handlung keinen Antheil
nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieſes hoͤ-
here Weſen ſich geradezu an die Zuſchauer wen-
den laſſen, wodurch die dramatiſche Gattung
mit der erzehlenden vermiſcht werde. Wenn ſie
aber ihren Tadel ſodann blos hierauf einſchraͤnk-
ten, was waͤre denn ihr Tadel? Iſt uns das
Nuͤtzliche und Nothwendige niemals willkom-
men, als wenn es uns verſtohlner Weiſe zuge-
ſchanzt wird? Giebt es nicht Dinge, beſonders
in der Zukunft, die durchaus niemand anders
als ein Gott wiſſen kann? Und wenn das In-
tereſſe auf ſolchen Dingen beruht, iſt es nicht
beſſer, daß wir ſie durch die Darzwiſchenkunft
eines
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/397>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.