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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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aussagt, was noch vorgehen soll. -- O ihr Ver-
fertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht
ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem
Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf
welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann,
so oft es ihm beliebt! -- Meine Gedanken mögen
so paradox scheinen, als sie wollen: so viel weiß
ich gewiß, daß für Eine Gelegenheit, wo es
nützlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vor-
fall so lange zu verhehlen, bis er sich eräugnet,
es immer zehn und mehrere giebt, wo das In-
teresse gerade das Gegentheil erfodert. -- Der
Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimniß
eine kurze Ueberraschung; und in welche anhal-
tende Unruhe hätte er uns stürzen können, wenn
er uns kein Geheimniß daraus gemacht hätte! --
Wer in Einem Augenblicke getroffen und nieder-
geschlagen wird, den kann ich auch nur Einen
Augenblick betauern. Aber wie steht es als-
denn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte,
wenn ich sehe, daß sich das Ungewitter über mei-
nem oder eines andern Haupte zusammenziehet,
und lange Zeit darüber verweilet? -- Meinet-
wegen mögen die Personen alle einander nicht
kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle ken-
net. -- Ja, ich wollte fast behaupten, daß der
Stoff, bey welchem die Verschweigungen noth-
wendig sind, ein undankbarer Stoff ist; daß
der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ih-

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ausſagt, was noch vorgehen ſoll. — O ihr Ver-
fertiger allgemeiner Regeln, wie wenig verſteht
ihr die Kunſt, und wie wenig beſitzt ihr von dem
Genie, das die Muſter hervorgebracht hat, auf
welche ihr ſie bauet, und das ſie uͤbertreten kann,
ſo oft es ihm beliebt! — Meine Gedanken moͤgen
ſo paradox ſcheinen, als ſie wollen: ſo viel weiß
ich gewiß, daß fuͤr Eine Gelegenheit, wo es
nuͤtzlich iſt, dem Zuſchauer einen wichtigen Vor-
fall ſo lange zu verhehlen, bis er ſich eraͤugnet,
es immer zehn und mehrere giebt, wo das In-
tereſſe gerade das Gegentheil erfodert. — Der
Dichter bewerkſtelliget durch ſein Geheimniß
eine kurze Ueberraſchung; und in welche anhal-
tende Unruhe haͤtte er uns ſtuͤrzen koͤnnen, wenn
er uns kein Geheimniß daraus gemacht haͤtte! —
Wer in Einem Augenblicke getroffen und nieder-
geſchlagen wird, den kann ich auch nur Einen
Augenblick betauern. Aber wie ſteht es als-
denn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte,
wenn ich ſehe, daß ſich das Ungewitter uͤber mei-
nem oder eines andern Haupte zuſammenziehet,
und lange Zeit daruͤber verweilet? — Meinet-
wegen moͤgen die Perſonen alle einander nicht
kennen; wenn ſie nur der Zuſchauer alle ken-
net. — Ja, ich wollte faſt behaupten, daß der
Stoff, bey welchem die Verſchweigungen noth-
wendig ſind, ein undankbarer Stoff iſt; daß
der Plan, in welchem man ſeine Zuflucht zu ih-

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[379/0393] ausſagt, was noch vorgehen ſoll. — O ihr Ver- fertiger allgemeiner Regeln, wie wenig verſteht ihr die Kunſt, und wie wenig beſitzt ihr von dem Genie, das die Muſter hervorgebracht hat, auf welche ihr ſie bauet, und das ſie uͤbertreten kann, ſo oft es ihm beliebt! — Meine Gedanken moͤgen ſo paradox ſcheinen, als ſie wollen: ſo viel weiß ich gewiß, daß fuͤr Eine Gelegenheit, wo es nuͤtzlich iſt, dem Zuſchauer einen wichtigen Vor- fall ſo lange zu verhehlen, bis er ſich eraͤugnet, es immer zehn und mehrere giebt, wo das In- tereſſe gerade das Gegentheil erfodert. — Der Dichter bewerkſtelliget durch ſein Geheimniß eine kurze Ueberraſchung; und in welche anhal- tende Unruhe haͤtte er uns ſtuͤrzen koͤnnen, wenn er uns kein Geheimniß daraus gemacht haͤtte! — Wer in Einem Augenblicke getroffen und nieder- geſchlagen wird, den kann ich auch nur Einen Augenblick betauern. Aber wie ſteht es als- denn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich ſehe, daß ſich das Ungewitter uͤber mei- nem oder eines andern Haupte zuſammenziehet, und lange Zeit daruͤber verweilet? — Meinet- wegen moͤgen die Perſonen alle einander nicht kennen; wenn ſie nur der Zuſchauer alle ken- net. — Ja, ich wollte faſt behaupten, daß der Stoff, bey welchem die Verſchweigungen noth- wendig ſind, ein undankbarer Stoff iſt; daß der Plan, in welchem man ſeine Zuflucht zu ih- nen B b b 2

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/393>, abgerufen am 22.11.2024.