aber alle Menschen können es an sich selbst mer- ken, zu welchen Handlungen man sich Einen Tag, und zu welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die physische Ein- heit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moralischen zu beobachten verstehet, und sich kein Bedenken macht, diese jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinen Vortheil, und opfert das Wesentlichere dem Zufälligen auf. -- Maffei nimmt doch wenigstens noch eine Nacht zu Hülfe; und die Vermählung, die Po- lyphont der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch ist es bey ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget; die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie übereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Epheme- ron von einem Könige, der schon darum den zweyten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfängt.
3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde öfters die Scenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heut zu Tage auch den gering- sten Poeten nicht verzeihe. "Die Verbindung "der Scenen, sagt Corneille, ist eine große "Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns "von der Stetigkeit der Handlung besser versi- "chern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie
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aber alle Menſchen koͤnnen es an ſich ſelbſt mer- ken, zu welchen Handlungen man ſich Einen Tag, und zu welchen man ſich mehrere nehmen ſollte. Welcher Dichter alſo die phyſiſche Ein- heit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moraliſchen zu beobachten verſtehet, und ſich kein Bedenken macht, dieſe jener aufzuopfern, der verſtehet ſich ſehr ſchlecht auf ſeinen Vortheil, und opfert das Weſentlichere dem Zufaͤlligen auf. — Maffei nimmt doch wenigſtens noch eine Nacht zu Huͤlfe; und die Vermaͤhlung, die Po- lyphont der Merope heute andeutet, wird erſt den Morgen darauf vollzogen. Auch iſt es bey ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron beſteiget; die Begebenheiten preſſen ſich folglich weniger; ſie eilen, aber ſie uͤbereilen ſich nicht. Voltairens Polyphont iſt ein Epheme- ron von einem Koͤnige, der ſchon darum den zweyten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den erſten ſeine Sache ſo gar albern und dumm anfaͤngt.
3. Maffei, ſagt Lindelle, verbinde oͤfters die Scenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heut zu Tage auch den gering- ſten Poeten nicht verzeihe. 〟Die Verbindung 〟der Scenen, ſagt Corneille, iſt eine große 〟Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns 〟von der Stetigkeit der Handlung beſſer verſi- 〟chern, als die Stetigkeit der Vorſtellung. Sie
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aber alle Menſchen koͤnnen es an ſich ſelbſt mer-
ken, zu welchen Handlungen man ſich Einen
Tag, und zu welchen man ſich mehrere nehmen
ſollte. Welcher Dichter alſo die phyſiſche Ein-
heit der Zeit nicht anders als durch Verletzung
der moraliſchen zu beobachten verſtehet, und ſich
kein Bedenken macht, dieſe jener aufzuopfern,
der verſtehet ſich ſehr ſchlecht auf ſeinen Vortheil,
und opfert das Weſentlichere dem Zufaͤlligen
auf. — Maffei nimmt doch wenigſtens noch eine
Nacht zu Huͤlfe; und die Vermaͤhlung, die Po-
lyphont der Merope heute andeutet, wird erſt
den Morgen darauf vollzogen. Auch iſt es bey
ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den
Thron beſteiget; die Begebenheiten preſſen ſich
folglich weniger; ſie eilen, aber ſie uͤbereilen ſich
nicht. Voltairens Polyphont iſt ein Epheme-
ron von einem Koͤnige, der ſchon darum den
zweyten Tag nicht zu regieren verdienet, weil
er den erſten ſeine Sache ſo gar albern und
dumm anfaͤngt.
3. Maffei, ſagt Lindelle, verbinde oͤfters die
Scenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein
Fehler, den man heut zu Tage auch den gering-
ſten Poeten nicht verzeihe. 〟Die Verbindung
〟der Scenen, ſagt Corneille, iſt eine große
〟Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/371>, abgerufen am 22.11.2024.
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