Hamburgische Dramaturgie. Fünf und vierzigstes Stück.
Den 2ten October, 1767.
2. Nicht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke sich einmal al- les das, was er in seiner Merope vorgehen läßt, an Einem Tage geschehen; und sage, wie viel Ungereimtheiten man sich dabey denken muß. Man nehme immer einen völligen, natürlichen Tag; man gebe ihm immer die dreyßig Stun- den, auf die Corneille ihn auszudehnen erlau- ben will. Es ist wahr, ich sehe zwar keine phy- sikalische Hindernisse, warum alle die Begeben- heiten in diesem Zeitraume nicht hätten gesche- hen können; aber desto mehr moralische. Es ist freylich nicht unmöglich, daß man innerhalb zwölf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet seyn kann; besonders, wenn man es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht, ver-
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Hamburgiſche Dramaturgie. Fuͤnf und vierzigſtes Stuͤck.
Den 2ten October, 1767.
2. Nicht weniger bequem hat es ſich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke ſich einmal al- les das, was er in ſeiner Merope vorgehen laͤßt, an Einem Tage geſchehen; und ſage, wie viel Ungereimtheiten man ſich dabey denken muß. Man nehme immer einen voͤlligen, natuͤrlichen Tag; man gebe ihm immer die dreyßig Stun- den, auf die Corneille ihn auszudehnen erlau- ben will. Es iſt wahr, ich ſehe zwar keine phy- ſikaliſche Hinderniſſe, warum alle die Begeben- heiten in dieſem Zeitraume nicht haͤtten geſche- hen koͤnnen; aber deſto mehr moraliſche. Es iſt freylich nicht unmoͤglich, daß man innerhalb zwoͤlf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet ſeyn kann; beſonders, wenn man es mit Gewalt vor den Prieſter ſchleppen darf. Aber wenn es geſchieht, ver-
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[[353]/0367]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fuͤnf und vierzigſtes Stuͤck.
Den 2ten October, 1767.
2. Nicht weniger bequem hat es ſich der Herr
von Voltaire mit der Einheit der Zeit
gemacht. Man denke ſich einmal al-
les das, was er in ſeiner Merope vorgehen laͤßt,
an Einem Tage geſchehen; und ſage, wie viel
Ungereimtheiten man ſich dabey denken muß.
Man nehme immer einen voͤlligen, natuͤrlichen
Tag; man gebe ihm immer die dreyßig Stun-
den, auf die Corneille ihn auszudehnen erlau-
ben will. Es iſt wahr, ich ſehe zwar keine phy-
ſikaliſche Hinderniſſe, warum alle die Begeben-
heiten in dieſem Zeitraume nicht haͤtten geſche-
hen koͤnnen; aber deſto mehr moraliſche. Es
iſt freylich nicht unmoͤglich, daß man innerhalb
zwoͤlf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten
und mit ihr getrauet ſeyn kann; beſonders,
wenn man es mit Gewalt vor den Prieſter
ſchleppen darf. Aber wenn es geſchieht, ver-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [353]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/367>, abgerufen am 23.11.2024.
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