Aussicht, muß gedacht werden. Nur hätte er bey diesen Abwechselungen auch die Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabey empfahl: sie müssen nicht in dem nehmlichen Akte, am wenigsten in der nehmlichen Scene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muß durch diesen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in eben derselben Scene abän- dern, oder auch nur erweitern oder verengern, ist die äußerste Ungereimtheit von der Welt. -- Der dritte Akt der Merope mag auf einem freyen Platze, unter einem Säulengange, oder in ei- nem Saale spielen, in dessen Vertiefung das Grabmahl des Kresphontes zu sehen, an wel- chem die Königinn den Aegisth mit eigner Hand hinrichten will: was kann man sich armseliger vorstellen, als daß, mitten in der vierten Scene, Eurikles, der den Aegisth wegführet, diese Vertiefung hinter sich zuschliessen muß? Wie schließt er sie zu? Fällt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhängen über- haupt sagt, gepaßt hat, so ist es auf diesen; (*)
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(*)On met des rideaux qui se tirent & retirent, pour faire que les Acteurs paroissent & disparoissent selon la necessite du Sujet -- ces rideaux ne sont bons qu' a faire des cou- vertures pour berner ceux qui les ont in- ventez, & ceux qui les approuvent. Pra- tique du Theatre Liv. II. chap. 6.
Ausſicht, muß gedacht werden. Nur haͤtte er bey dieſen Abwechſelungen auch die Vorſicht brauchen ſollen, die Corneille dabey empfahl: ſie muͤſſen nicht in dem nehmlichen Akte, am wenigſten in der nehmlichen Scene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts iſt, muß durch dieſen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in eben derſelben Scene abaͤn- dern, oder auch nur erweitern oder verengern, iſt die aͤußerſte Ungereimtheit von der Welt. — Der dritte Akt der Merope mag auf einem freyen Platze, unter einem Saͤulengange, oder in ei- nem Saale ſpielen, in deſſen Vertiefung das Grabmahl des Kreſphontes zu ſehen, an wel- chem die Koͤniginn den Aegisth mit eigner Hand hinrichten will: was kann man ſich armſeliger vorſtellen, als daß, mitten in der vierten Scene, Eurikles, der den Aegisth wegfuͤhret, dieſe Vertiefung hinter ſich zuſchlieſſen muß? Wie ſchließt er ſie zu? Faͤllt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhaͤngen uͤber- haupt ſagt, gepaßt hat, ſo iſt es auf dieſen; (*)
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(*)On met des rideaux qui ſe tirent & retirent, pour faire que les Acteurs paroiſſent & diſparoiſſent ſelon la neceſſité du Sujet — ces rideaux ne ſont bons qu’ à faire des cou- vertures pour berner ceux qui les ont in- ventez, & ceux qui les approuvent. Pra- tique du Theatre Liv. II. chap. 6.
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Ausſicht, muß gedacht werden. Nur haͤtte er
bey dieſen Abwechſelungen auch die Vorſicht
brauchen ſollen, die Corneille dabey empfahl:
ſie muͤſſen nicht in dem nehmlichen Akte, am
wenigſten in der nehmlichen Scene angebracht
werden. Der Ort, welcher zu Anfange des
Akts iſt, muß durch dieſen ganzen Akt dauern;
und ihn vollends in eben derſelben Scene abaͤn-
dern, oder auch nur erweitern oder verengern,
iſt die aͤußerſte Ungereimtheit von der Welt. —
Der dritte Akt der Merope mag auf einem freyen
Platze, unter einem Saͤulengange, oder in ei-
nem Saale ſpielen, in deſſen Vertiefung das
Grabmahl des Kreſphontes zu ſehen, an wel-
chem die Koͤniginn den Aegisth mit eigner Hand
hinrichten will: was kann man ſich armſeliger
vorſtellen, als daß, mitten in der vierten Scene,
Eurikles, der den Aegisth wegfuͤhret, dieſe
Vertiefung hinter ſich zuſchlieſſen muß? Wie
ſchließt er ſie zu? Faͤllt ein Vorhang hinter ihm
nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das,
was Hedelin von dergleichen Vorhaͤngen uͤber-
haupt ſagt, gepaßt hat, ſo iſt es auf dieſen; (*)
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(*) On met des rideaux qui ſe tirent & retirent,
pour faire que les Acteurs paroiſſent &
diſparoiſſent ſelon la neceſſité du Sujet —
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/365>, abgerufen am 22.11.2024.
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