wird. Und wie vollkommen wohl jener trä- gischste Glückswechsel mit der tragischsten Be- handlung des Leidens sich in einer und eben der- selben Fabel verbinden lasse, kann man an der Merope selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß sie nicht auch die erstere ha- ben könnte, wenn nehmlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schützen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben beförderte? Warum könnte sich dieses Stück nicht eben so- wohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen schliessen? Warum sollte es einem Dichter nicht frey stehen können, um unser Mit- leiden gegen eine so zärtliche Mutter auf das höchste zu treiben, sie durch ihre Zärtlichkeit selbst unglücklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht erlaubt seyn, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen, gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Würde eine solche Me- rope, in beiden Fällen, nicht wirklich die beiden Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bey dem Kunstrichter so widersprechend findet?
Ich merke wohl, was das Mißverständniß ver- anlasset haben kann. Man hat sich einen Glücks- wechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht
ohne
wird. Und wie vollkommen wohl jener traͤ- giſchſte Gluͤckswechſel mit der tragiſchſten Be- handlung des Leidens ſich in einer und eben der- ſelben Fabel verbinden laſſe, kann man an der Merope ſelbſt zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß ſie nicht auch die erſtere ha- ben koͤnnte, wenn nehmlich Merope, nachdem ſie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu ſchuͤtzen, entweder ihr eigenes oder dieſes geliebten Sohnes Verderben befoͤrderte? Warum koͤnnte ſich dieſes Stuͤck nicht eben ſo- wohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen ſchlieſſen? Warum ſollte es einem Dichter nicht frey ſtehen koͤnnen, um unſer Mit- leiden gegen eine ſo zaͤrtliche Mutter auf das hoͤchſte zu treiben, ſie durch ihre Zaͤrtlichkeit ſelbſt ungluͤcklich werden zu laſſen? Oder warum ſollte es ihm nicht erlaubt ſeyn, den Sohn, den er der frommen Rache ſeiner Mutter entriſſen, gleichwohl den Nachſtellungen des Tyrannen unterliegen zu laſſen? Wuͤrde eine ſolche Me- rope, in beiden Faͤllen, nicht wirklich die beiden Eigenſchaften des beſten Trauerſpiels verbinden, die man bey dem Kunſtrichter ſo widerſprechend findet?
Ich merke wohl, was das Mißverſtaͤndniß ver- anlaſſet haben kann. Man hat ſich einen Gluͤcks- wechſel aus dem Beſſern in das Schlimmere nicht
ohne
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wird. Und wie vollkommen wohl jener traͤ-
giſchſte Gluͤckswechſel mit der tragiſchſten Be-
handlung des Leidens ſich in einer und eben der-
ſelben Fabel verbinden laſſe, kann man an der
Merope ſelbſt zeigen. Sie hat die letztere; aber
was hindert es, daß ſie nicht auch die erſtere ha-
ben koͤnnte, wenn nehmlich Merope, nachdem
ſie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch
ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den
Polyphont zu ſchuͤtzen, entweder ihr eigenes oder
dieſes geliebten Sohnes Verderben befoͤrderte?
Warum koͤnnte ſich dieſes Stuͤck nicht eben ſo-
wohl mit dem Untergange der Mutter, als des
Tyrannen ſchlieſſen? Warum ſollte es einem
Dichter nicht frey ſtehen koͤnnen, um unſer Mit-
leiden gegen eine ſo zaͤrtliche Mutter auf das
hoͤchſte zu treiben, ſie durch ihre Zaͤrtlichkeit
ſelbſt ungluͤcklich werden zu laſſen? Oder warum
ſollte es ihm nicht erlaubt ſeyn, den Sohn, den
er der frommen Rache ſeiner Mutter entriſſen,
gleichwohl den Nachſtellungen des Tyrannen
unterliegen zu laſſen? Wuͤrde eine ſolche Me-
rope, in beiden Faͤllen, nicht wirklich die beiden
Eigenſchaften des beſten Trauerſpiels verbinden,
die man bey dem Kunſtrichter ſo widerſprechend
findet?
Ich merke wohl, was das Mißverſtaͤndniß ver-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/317>, abgerufen am 22.11.2024.
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