Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahr- scheinlich scheinet. Eines offenbaren Wider- spruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bey so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Ver- stand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich überlese die Stelle zehnmal, und glaube nicht eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems er- sehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten können, was ihm diesen Wider- spruch gewissermaaßen unvermeidlich machen müssen, so bin ich überzeugt, daß er nur anschei- nend ist. Denn sonst würde er dem Verfasser, der seine Materie so oft überdenken müssen, ge- wiß am ersten aufgefallen seyn, und nicht mir ungeübterm Leser, der ich ihn zu meinem Unter- richte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zurück, ponderire ein jedes Wort, und sage mir immer: Aristoteles kann irren, und hat oft ge- irret; aber daß er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der nächsten Seite gerade das Ge- gentheil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sichs auch.
Doch ohne weitere Umstände; hier ist die Er- klärung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. --
Auf
Ich bekenne, daß mir dieſes nicht ſehr wahr- ſcheinlich ſcheinet. Eines offenbaren Wider- ſpruchs macht ſich ein Ariſtoteles nicht leicht ſchuldig. Wo ich dergleichen bey ſo einem Manne zu finden glaube, ſetze ich das groͤßere Mißtrauen lieber in meinen, als in ſeinen Ver- ſtand. Ich verdoppele meine Aufmerkſamkeit, ich uͤberleſe die Stelle zehnmal, und glaube nicht eher, daß er ſich widerſprochen, als bis ich aus dem ganzen Zuſammenhange ſeines Syſtems er- ſehe, wie und wodurch er zu dieſem Widerſpruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten koͤnnen, was ihm dieſen Wider- ſpruch gewiſſermaaßen unvermeidlich machen muͤſſen, ſo bin ich uͤberzeugt, daß er nur anſchei- nend iſt. Denn ſonſt wuͤrde er dem Verfaſſer, der ſeine Materie ſo oft uͤberdenken muͤſſen, ge- wiß am erſten aufgefallen ſeyn, und nicht mir ungeuͤbterm Leſer, der ich ihn zu meinem Unter- richte in die Hand nehme. Ich bleibe alſo ſtehen, verfolge den Faden ſeiner Gedanken zuruͤck, ponderire ein jedes Wort, und ſage mir immer: Ariſtoteles kann irren, und hat oft ge- irret; aber daß er hier etwas behaupten ſollte, wovon er auf der naͤchſten Seite gerade das Ge- gentheil behauptet, das kann Ariſtoteles nicht. Endlich findet ſichs auch.
Doch ohne weitere Umſtaͤnde; hier iſt die Er- klaͤrung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. —
Auf
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Ich bekenne, daß mir dieſes nicht ſehr wahr-
ſcheinlich ſcheinet. Eines offenbaren Wider-
ſpruchs macht ſich ein Ariſtoteles nicht leicht
ſchuldig. Wo ich dergleichen bey ſo einem
Manne zu finden glaube, ſetze ich das groͤßere
Mißtrauen lieber in meinen, als in ſeinen Ver-
ſtand. Ich verdoppele meine Aufmerkſamkeit,
ich uͤberleſe die Stelle zehnmal, und glaube nicht
eher, daß er ſich widerſprochen, als bis ich aus
dem ganzen Zuſammenhange ſeines Syſtems er-
ſehe, wie und wodurch er zu dieſem Widerſpruche
verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn
dazu verleiten koͤnnen, was ihm dieſen Wider-
ſpruch gewiſſermaaßen unvermeidlich machen
muͤſſen, ſo bin ich uͤberzeugt, daß er nur anſchei-
nend iſt. Denn ſonſt wuͤrde er dem Verfaſſer,
der ſeine Materie ſo oft uͤberdenken muͤſſen, ge-
wiß am erſten aufgefallen ſeyn, und nicht mir
ungeuͤbterm Leſer, der ich ihn zu meinem Unter-
richte in die Hand nehme. Ich bleibe alſo
ſtehen, verfolge den Faden ſeiner Gedanken
zuruͤck, ponderire ein jedes Wort, und ſage mir
immer: Ariſtoteles kann irren, und hat oft ge-
irret; aber daß er hier etwas behaupten ſollte,
wovon er auf der naͤchſten Seite gerade das Ge-
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Endlich findet ſichs auch.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/312>, abgerufen am 18.12.2024.
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