welches ein liebreicher Ehemann führte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele, nach- dem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen, haben diese Regierung hernach mit allem männlichen Stolze verwaltet: das ist wahr. Sie hatten bey ihren kalten, mürri- schen, treulosen Gatten alles, was die Unter- würfigkeit kränkendes hat, zu sehr erfahren, als daß ihnen nachher ihre mit der äußersten Gefahr erlangte Unabhängigkeit nicht um so viel schätz- barer hätte seyn sollen. Aber sicherlich hat keine das bey sich gedacht und empfunden, was Cor- neille seine Cleopatra selbst von sich sagen läßt; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der größte Bösewicht weiß sich vor sich selbst zu ent- schuldigen, sucht sich selbst zu überreden, daß das Laster, welches er begeht, kein so großes Laster sey, oder daß ihn die unvermeidliche Nothwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, daß er sich des Lasters, als Lasters rühmet; und der Dichter ist äußerst zu tadeln, der aus Begierde etwas Glänzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen läßt, als ob seine Grundneigungen auf das Böse, als auf das Böse, gehen könn- ten.
Dergleichen mißgeschilderte Charaktere, der- gleichen schaudernde Tiraden, sind indeß bey
kei-
welches ein liebreicher Ehemann fuͤhrte, hat ſich ſchwerlich eine ſo weit vergangen. Viele, nach- dem ſie als beleidigte Gattinnen die Regierung an ſich geriſſen, haben dieſe Regierung hernach mit allem maͤnnlichen Stolze verwaltet: das iſt wahr. Sie hatten bey ihren kalten, muͤrri- ſchen, treuloſen Gatten alles, was die Unter- wuͤrfigkeit kraͤnkendes hat, zu ſehr erfahren, als daß ihnen nachher ihre mit der aͤußerſten Gefahr erlangte Unabhaͤngigkeit nicht um ſo viel ſchaͤtz- barer haͤtte ſeyn ſollen. Aber ſicherlich hat keine das bey ſich gedacht und empfunden, was Cor- neille ſeine Cleopatra ſelbſt von ſich ſagen laͤßt; die unſinnigſten Bravaden des Laſters. Der groͤßte Boͤſewicht weiß ſich vor ſich ſelbſt zu ent- ſchuldigen, ſucht ſich ſelbſt zu uͤberreden, daß das Laſter, welches er begeht, kein ſo großes Laſter ſey, oder daß ihn die unvermeidliche Nothwendigkeit es zu begehen zwinge. Es iſt wider alle Natur, daß er ſich des Laſters, als Laſters ruͤhmet; und der Dichter iſt aͤußerſt zu tadeln, der aus Begierde etwas Glaͤnzendes und Starkes zu ſagen, uns das menſchliche Herz ſo verkennen laͤßt, als ob ſeine Grundneigungen auf das Boͤſe, als auf das Boͤſe, gehen koͤnn- ten.
Dergleichen mißgeſchilderte Charaktere, der- gleichen ſchaudernde Tiraden, ſind indeß bey
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welches ein liebreicher Ehemann fuͤhrte, hat ſich
ſchwerlich eine ſo weit vergangen. Viele, nach-
dem ſie als beleidigte Gattinnen die Regierung
an ſich geriſſen, haben dieſe Regierung hernach
mit allem maͤnnlichen Stolze verwaltet: das iſt
wahr. Sie hatten bey ihren kalten, muͤrri-
ſchen, treuloſen Gatten alles, was die Unter-
wuͤrfigkeit kraͤnkendes hat, zu ſehr erfahren, als
daß ihnen nachher ihre mit der aͤußerſten Gefahr
erlangte Unabhaͤngigkeit nicht um ſo viel ſchaͤtz-
barer haͤtte ſeyn ſollen. Aber ſicherlich hat keine
das bey ſich gedacht und empfunden, was Cor-
neille ſeine Cleopatra ſelbſt von ſich ſagen laͤßt;
die unſinnigſten Bravaden des Laſters. Der
groͤßte Boͤſewicht weiß ſich vor ſich ſelbſt zu ent-
ſchuldigen, ſucht ſich ſelbſt zu uͤberreden, daß
das Laſter, welches er begeht, kein ſo großes
Laſter ſey, oder daß ihn die unvermeidliche
Nothwendigkeit es zu begehen zwinge. Es iſt
wider alle Natur, daß er ſich des Laſters, als
Laſters ruͤhmet; und der Dichter iſt aͤußerſt zu
tadeln, der aus Begierde etwas Glaͤnzendes und
Starkes zu ſagen, uns das menſchliche Herz ſo
verkennen laͤßt, als ob ſeine Grundneigungen
auf das Boͤſe, als auf das Boͤſe, gehen koͤnn-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/253>, abgerufen am 25.11.2024.
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