Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

1765 aufgeführet ward. Herr Löwen scheinet
nicht sowohl dieses Stück, als die Erzehlung
des Voltaire selbst, vor Augen gehabt zu haben.
Wenn man bey Beurtheilung einer Bildsäule
mit auf den Marmorblock zu sehen hat, aus wel-
chem sie gemacht worden; wenn die primitive
Form dieses Blockes es zu entschuldigen ver-
mag, daß dieses oder jenes Glied zu kurz, diese
oder jene Stellung zu gezwungen gerathen: so
ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den
Herrn Löwen wegen der Einrichtung seines
Stücks in Anspruch nehmen wollte. Mache
aus einem Hexenmährchen etwas Wahrscheinli-
chers, wer da kann! Herr Löwen selbst giebt
sein Räthsel für nichts anders, als für eine
kleine Platsanterie, die auf dem Theater gefal-
len kann, wenn sie gut gespielt wird. Ver-
wandlung und Tanz und Gesang concurriren zu
dieser Absicht; und es wäre bloßer Eigensinn,
an keinem Belieben zu finden. Die Laune des
Pedrillo ist zwar nicht original, aber doch gut
getroffen. Nur dünkt mich, daß ein Waffen-
träger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte
und Wahnsinnige der irrenden Ritterschaft ein-
sieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen will,
die sich auf die Wirklichkeit der Zauberey grün-
det, und ritterliche Abentheuer als rühmliche
Handlungen eines vernünftigen und tapfern
Mannes annimmt. Doch, wie gesagt, es ist

eine
F f 2

1765 aufgefuͤhret ward. Herr Loͤwen ſcheinet
nicht ſowohl dieſes Stuͤck, als die Erzehlung
des Voltaire ſelbſt, vor Augen gehabt zu haben.
Wenn man bey Beurtheilung einer Bildſaͤule
mit auf den Marmorblock zu ſehen hat, aus wel-
chem ſie gemacht worden; wenn die primitive
Form dieſes Blockes es zu entſchuldigen ver-
mag, daß dieſes oder jenes Glied zu kurz, dieſe
oder jene Stellung zu gezwungen gerathen: ſo
iſt die Kritik auf einmal abgewieſen, die den
Herrn Loͤwen wegen der Einrichtung ſeines
Stuͤcks in Anſpruch nehmen wollte. Mache
aus einem Hexenmaͤhrchen etwas Wahrſcheinli-
chers, wer da kann! Herr Loͤwen ſelbſt giebt
ſein Raͤthſel fuͤr nichts anders, als fuͤr eine
kleine Platſanterie, die auf dem Theater gefal-
len kann, wenn ſie gut geſpielt wird. Ver-
wandlung und Tanz und Geſang concurriren zu
dieſer Abſicht; und es waͤre bloßer Eigenſinn,
an keinem Belieben zu finden. Die Laune des
Pedrillo iſt zwar nicht original, aber doch gut
getroffen. Nur duͤnkt mich, daß ein Waffen-
traͤger oder Stallmeiſter, der das Abgeſchmackte
und Wahnſinnige der irrenden Ritterſchaft ein-
ſieht, ſich nicht ſo recht in eine Fabel paſſen will,
die ſich auf die Wirklichkeit der Zauberey gruͤn-
det, und ritterliche Abentheuer als ruͤhmliche
Handlungen eines vernuͤnftigen und tapfern
Mannes annimmt. Doch, wie geſagt, es iſt

eine
F f 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0241" n="227"/>
1765 aufgefu&#x0364;hret ward. Herr Lo&#x0364;wen &#x017F;cheinet<lb/>
nicht &#x017F;owohl die&#x017F;es Stu&#x0364;ck, als die Erzehlung<lb/>
des Voltaire &#x017F;elb&#x017F;t, vor Augen gehabt zu haben.<lb/>
Wenn man bey Beurtheilung einer Bild&#x017F;a&#x0364;ule<lb/>
mit auf den Marmorblock zu &#x017F;ehen hat, aus wel-<lb/>
chem &#x017F;ie gemacht worden; wenn die primitive<lb/>
Form die&#x017F;es Blockes es zu ent&#x017F;chuldigen ver-<lb/>
mag, daß die&#x017F;es oder jenes Glied zu kurz, die&#x017F;e<lb/>
oder jene Stellung zu gezwungen gerathen: &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t die Kritik auf einmal abgewie&#x017F;en, die den<lb/>
Herrn Lo&#x0364;wen wegen der Einrichtung &#x017F;eines<lb/>
Stu&#x0364;cks in An&#x017F;pruch nehmen wollte. Mache<lb/>
aus einem Hexenma&#x0364;hrchen etwas Wahr&#x017F;cheinli-<lb/>
chers, wer da kann! Herr Lo&#x0364;wen &#x017F;elb&#x017F;t giebt<lb/>
&#x017F;ein Ra&#x0364;th&#x017F;el fu&#x0364;r nichts anders, als fu&#x0364;r eine<lb/>
kleine Plat&#x017F;anterie, die auf dem Theater gefal-<lb/>
len kann, wenn &#x017F;ie gut ge&#x017F;pielt wird. Ver-<lb/>
wandlung und Tanz und Ge&#x017F;ang concurriren zu<lb/>
die&#x017F;er Ab&#x017F;icht; und es wa&#x0364;re bloßer Eigen&#x017F;inn,<lb/>
an keinem Belieben zu finden. Die Laune des<lb/>
Pedrillo i&#x017F;t zwar nicht original, aber doch gut<lb/>
getroffen. Nur du&#x0364;nkt mich, daß ein Waffen-<lb/>
tra&#x0364;ger oder Stallmei&#x017F;ter, der das Abge&#x017F;chmackte<lb/>
und Wahn&#x017F;innige der irrenden Ritter&#x017F;chaft ein-<lb/>
&#x017F;ieht, &#x017F;ich nicht &#x017F;o recht in eine Fabel pa&#x017F;&#x017F;en will,<lb/>
die &#x017F;ich auf die Wirklichkeit der Zauberey gru&#x0364;n-<lb/>
det, und ritterliche Abentheuer als ru&#x0364;hmliche<lb/>
Handlungen eines vernu&#x0364;nftigen und tapfern<lb/>
Mannes annimmt. Doch, wie ge&#x017F;agt, es i&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F f 2</fw><fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[227/0241] 1765 aufgefuͤhret ward. Herr Loͤwen ſcheinet nicht ſowohl dieſes Stuͤck, als die Erzehlung des Voltaire ſelbſt, vor Augen gehabt zu haben. Wenn man bey Beurtheilung einer Bildſaͤule mit auf den Marmorblock zu ſehen hat, aus wel- chem ſie gemacht worden; wenn die primitive Form dieſes Blockes es zu entſchuldigen ver- mag, daß dieſes oder jenes Glied zu kurz, dieſe oder jene Stellung zu gezwungen gerathen: ſo iſt die Kritik auf einmal abgewieſen, die den Herrn Loͤwen wegen der Einrichtung ſeines Stuͤcks in Anſpruch nehmen wollte. Mache aus einem Hexenmaͤhrchen etwas Wahrſcheinli- chers, wer da kann! Herr Loͤwen ſelbſt giebt ſein Raͤthſel fuͤr nichts anders, als fuͤr eine kleine Platſanterie, die auf dem Theater gefal- len kann, wenn ſie gut geſpielt wird. Ver- wandlung und Tanz und Geſang concurriren zu dieſer Abſicht; und es waͤre bloßer Eigenſinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo iſt zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur duͤnkt mich, daß ein Waffen- traͤger oder Stallmeiſter, der das Abgeſchmackte und Wahnſinnige der irrenden Ritterſchaft ein- ſieht, ſich nicht ſo recht in eine Fabel paſſen will, die ſich auf die Wirklichkeit der Zauberey gruͤn- det, und ritterliche Abentheuer als ruͤhmliche Handlungen eines vernuͤnftigen und tapfern Mannes annimmt. Doch, wie geſagt, es iſt eine F f 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/241
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/241>, abgerufen am 07.05.2024.