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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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er läßt seinen Gang nicht gern voraus verrathen;
und die Musik würde ihn verrathen, wenn sie
die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit
der Anfangssymphonie ist es ein anders; sie
kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und
doch muß auch sie nur den allgemeinen Ton des
Stücks angeben, und nicht stärker, nicht be-
stimmter, als ihn ungefehr der Titel angiebt.
Man darf dem Zuhörer wohl das Ziel zeigen,
wohin man ihn führen will, aber die verschiede-
nen Wege, auf welchen er dahin gelangen soll,
müssen ihm gänzlich verborgen bleiben. Dieser
Grund wider einen zweyten Satz zwischen den
Akten, ist aus dem Vortheile des Dichters her-
genommen; und er wird durch einen andern,
der sich aus den Schranken der Musik ergiebt,
bestärkt. Denn gesetzt, daß die Leidenschaften,
welche in zwey auf einander folgenden Akten
herrschen, einander ganz entgegen wären, so
würden nothwendig auch die beiden Sätze von
eben so widriger Beschaffenheit seyn müssen.
Nun begreife ich sehr wohl, wie uns der Dichter
aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr entgegen-
stehenden, zu ihrem völligen Widerspiele, ohne
unangenehme Gewaltsamkeit, bringen kann;
er thut es nach und nach, gemach und gemach;
er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse,
entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den
geringsten Sprung zu thun. Aber kann dieses

auch
D d 2

er laͤßt ſeinen Gang nicht gern voraus verrathen;
und die Muſik wuͤrde ihn verrathen, wenn ſie
die folgende Leidenſchaft angeben wollte. Mit
der Anfangsſymphonie iſt es ein anders; ſie
kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und
doch muß auch ſie nur den allgemeinen Ton des
Stuͤcks angeben, und nicht ſtaͤrker, nicht be-
ſtimmter, als ihn ungefehr der Titel angiebt.
Man darf dem Zuhoͤrer wohl das Ziel zeigen,
wohin man ihn fuͤhren will, aber die verſchiede-
nen Wege, auf welchen er dahin gelangen ſoll,
muͤſſen ihm gaͤnzlich verborgen bleiben. Dieſer
Grund wider einen zweyten Satz zwiſchen den
Akten, iſt aus dem Vortheile des Dichters her-
genommen; und er wird durch einen andern,
der ſich aus den Schranken der Muſik ergiebt,
beſtaͤrkt. Denn geſetzt, daß die Leidenſchaften,
welche in zwey auf einander folgenden Akten
herrſchen, einander ganz entgegen waͤren, ſo
wuͤrden nothwendig auch die beiden Saͤtze von
eben ſo widriger Beſchaffenheit ſeyn muͤſſen.
Nun begreife ich ſehr wohl, wie uns der Dichter
aus einer jeden Leidenſchaft zu der ihr entgegen-
ſtehenden, zu ihrem voͤlligen Widerſpiele, ohne
unangenehme Gewaltſamkeit, bringen kann;
er thut es nach und nach, gemach und gemach;
er ſteiget die ganze Leiter von Sproſſe zu Sproſſe,
entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den
geringſten Sprung zu thun. Aber kann dieſes

auch
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[211/0225] er laͤßt ſeinen Gang nicht gern voraus verrathen; und die Muſik wuͤrde ihn verrathen, wenn ſie die folgende Leidenſchaft angeben wollte. Mit der Anfangsſymphonie iſt es ein anders; ſie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muß auch ſie nur den allgemeinen Ton des Stuͤcks angeben, und nicht ſtaͤrker, nicht be- ſtimmter, als ihn ungefehr der Titel angiebt. Man darf dem Zuhoͤrer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn fuͤhren will, aber die verſchiede- nen Wege, auf welchen er dahin gelangen ſoll, muͤſſen ihm gaͤnzlich verborgen bleiben. Dieſer Grund wider einen zweyten Satz zwiſchen den Akten, iſt aus dem Vortheile des Dichters her- genommen; und er wird durch einen andern, der ſich aus den Schranken der Muſik ergiebt, beſtaͤrkt. Denn geſetzt, daß die Leidenſchaften, welche in zwey auf einander folgenden Akten herrſchen, einander ganz entgegen waͤren, ſo wuͤrden nothwendig auch die beiden Saͤtze von eben ſo widriger Beſchaffenheit ſeyn muͤſſen. Nun begreife ich ſehr wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenſchaft zu der ihr entgegen- ſtehenden, zu ihrem voͤlligen Widerſpiele, ohne unangenehme Gewaltſamkeit, bringen kann; er thut es nach und nach, gemach und gemach; er ſteiget die ganze Leiter von Sproſſe zu Sproſſe, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringſten Sprung zu thun. Aber kann dieſes auch D d 2

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/225>, abgerufen am 28.11.2024.