will sie nicht um Gnade bitten: das ist die ewige Leyer. Der Zuschauer muß vergessen, daß Eli- sabeth entweder sehr abgeschmackt, oder sehr un- gerecht ist, wenn sie verlangt, daß der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welches er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muß es vergessen, und er vergißt es wirklich, um sich bloß mit den Gesinnungen des Stolzes zu beschäftigen, der dem menschlichen Herze so schmeichelhaft ist." "Mit einem Worte: keine einzige Rolle die- ses Trauerspiels ist, was sie seyn sollte; alle sind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Wo- her dieses Gefallen? Offenbar aus der Situa- tion der Personen, die für sich selbst rührend ist. -- Ein großer Mann, den man auf das Schaffot führet, wird immer intereßiren; die Vorstellung seines Schicksals macht, auch ohne alle Hülfe der Poesie, Eindruck; ungefehr eben den Eindruck, den die Wirklichkeit selbst machen würde."
So viel liegt für den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch diese allein, können die schwächsten verwirrtesten Stücke eine Art von Glück machen; und ich weiß nicht, wie es kömmt, daß es immer solche Stücke sind, in welchen sich gute Akteurs am vortheilhaftesten zeigen. Selten wird ein Meisterstück so meister- haft vorgestellt, als es geschrieben ist; das Mit-
tel-
will ſie nicht um Gnade bitten: das iſt die ewige Leyer. Der Zuſchauer muß vergeſſen, daß Eli- ſabeth entweder ſehr abgeſchmackt, oder ſehr un- gerecht iſt, wenn ſie verlangt, daß der Graf ſich ein Verbrechen ſoll vergeben laſſen, welches er nicht begangen, oder ſie nicht unterſucht hat. Er muß es vergeſſen, und er vergißt es wirklich, um ſich bloß mit den Geſinnungen des Stolzes zu beſchaͤftigen, der dem menſchlichen Herze ſo ſchmeichelhaft iſt.〟 〟Mit einem Worte: keine einzige Rolle die- ſes Trauerſpiels iſt, was ſie ſeyn ſollte; alle ſind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Wo- her dieſes Gefallen? Offenbar aus der Situa- tion der Perſonen, die fuͤr ſich ſelbſt ruͤhrend iſt. — Ein großer Mann, den man auf das Schaffot fuͤhret, wird immer intereßiren; die Vorſtellung ſeines Schickſals macht, auch ohne alle Huͤlfe der Poeſie, Eindruck; ungefehr eben den Eindruck, den die Wirklichkeit ſelbſt machen wuͤrde.〟
So viel liegt fuͤr den tragiſchen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch dieſe allein, koͤnnen die ſchwaͤchſten verwirrteſten Stuͤcke eine Art von Gluͤck machen; und ich weiß nicht, wie es koͤmmt, daß es immer ſolche Stuͤcke ſind, in welchen ſich gute Akteurs am vortheilhafteſten zeigen. Selten wird ein Meiſterſtuͤck ſo meiſter- haft vorgeſtellt, als es geſchrieben iſt; das Mit-
tel-
<TEI><text><body><divn="1"><cit><quote><pbfacs="#f0208"n="194"/>
will ſie nicht um Gnade bitten: das iſt die ewige<lb/>
Leyer. Der Zuſchauer muß vergeſſen, daß Eli-<lb/>ſabeth entweder ſehr abgeſchmackt, oder ſehr un-<lb/>
gerecht iſt, wenn ſie verlangt, daß der Graf ſich<lb/>
ein Verbrechen ſoll vergeben laſſen, welches er<lb/>
nicht begangen, oder ſie nicht unterſucht hat.<lb/>
Er muß es vergeſſen, und er vergißt es wirklich,<lb/>
um ſich bloß mit den Geſinnungen des Stolzes<lb/>
zu beſchaͤftigen, der dem menſchlichen Herze ſo<lb/>ſchmeichelhaft iſt.〟</quote></cit><lb/><cit><quote>〟Mit einem Worte: keine einzige Rolle die-<lb/>ſes Trauerſpiels iſt, was ſie ſeyn ſollte; alle ſind<lb/>
verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Wo-<lb/>
her dieſes Gefallen? Offenbar aus der Situa-<lb/>
tion der Perſonen, die fuͤr ſich ſelbſt ruͤhrend<lb/>
iſt. — Ein großer Mann, den man auf das<lb/>
Schaffot fuͤhret, wird immer intereßiren; die<lb/>
Vorſtellung ſeines Schickſals macht, auch ohne<lb/>
alle Huͤlfe der Poeſie, Eindruck; ungefehr eben den<lb/>
Eindruck, den die Wirklichkeit ſelbſt machen<lb/>
wuͤrde.〟</quote></cit><lb/><p>So viel liegt fuͤr den tragiſchen Dichter an<lb/>
der Wahl des Stoffes. Durch dieſe allein,<lb/>
koͤnnen die ſchwaͤchſten verwirrteſten Stuͤcke eine<lb/>
Art von Gluͤck machen; und ich weiß nicht, wie<lb/>
es koͤmmt, daß es immer ſolche Stuͤcke ſind, in<lb/>
welchen ſich gute Akteurs am vortheilhafteſten<lb/>
zeigen. Selten wird ein Meiſterſtuͤck ſo meiſter-<lb/>
haft vorgeſtellt, als es geſchrieben iſt; das Mit-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">tel-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[194/0208]
will ſie nicht um Gnade bitten: das iſt die ewige
Leyer. Der Zuſchauer muß vergeſſen, daß Eli-
ſabeth entweder ſehr abgeſchmackt, oder ſehr un-
gerecht iſt, wenn ſie verlangt, daß der Graf ſich
ein Verbrechen ſoll vergeben laſſen, welches er
nicht begangen, oder ſie nicht unterſucht hat.
Er muß es vergeſſen, und er vergißt es wirklich,
um ſich bloß mit den Geſinnungen des Stolzes
zu beſchaͤftigen, der dem menſchlichen Herze ſo
ſchmeichelhaft iſt.〟
〟Mit einem Worte: keine einzige Rolle die-
ſes Trauerſpiels iſt, was ſie ſeyn ſollte; alle ſind
verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Wo-
her dieſes Gefallen? Offenbar aus der Situa-
tion der Perſonen, die fuͤr ſich ſelbſt ruͤhrend
iſt. — Ein großer Mann, den man auf das
Schaffot fuͤhret, wird immer intereßiren; die
Vorſtellung ſeines Schickſals macht, auch ohne
alle Huͤlfe der Poeſie, Eindruck; ungefehr eben den
Eindruck, den die Wirklichkeit ſelbſt machen
wuͤrde.〟
So viel liegt fuͤr den tragiſchen Dichter an
der Wahl des Stoffes. Durch dieſe allein,
koͤnnen die ſchwaͤchſten verwirrteſten Stuͤcke eine
Art von Gluͤck machen; und ich weiß nicht, wie
es koͤmmt, daß es immer ſolche Stuͤcke ſind, in
welchen ſich gute Akteurs am vortheilhafteſten
zeigen. Selten wird ein Meiſterſtuͤck ſo meiſter-
haft vorgeſtellt, als es geſchrieben iſt; das Mit-
tel-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/208>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.