Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

todt, Gottsched ist auch todt: ich dächte, wir
zögen ihm das Jäckchen wieder an. -- Im Ern-
ste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden
ist, warum nicht auch unter seinem? "Er ist ein
ausländisches Geschöpf;" sagt man. Was
thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter
uns Ausländer wären! "Er trägt sich, wie sich
kein Mensch unter uns trägt:" -- so braucht er
nicht erst lange zu sagen, wer er ist. "Es ist
widersinnig, das nehmliche Individuum alle
Tage in einem andern Stücke erscheinen zu
sehen." Man muß ihn als kein Individuum,
sondern als eine ganze Gattung betrachten; es
ist nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen
im Falken, übermorgen in den falschen Vertrau-
lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gassen,
vorkömmt; sondern es sind Harlekine; die Gat-
tung leidet tausend Varietäten; der im Timon
ist nicht der im Falken; jener lebte in Griechen-
land, dieser in Frankreich; nur weil ihr Cha-
rakter einerley Hauptzüge hat, hat man ihnen
einerley Namen gelassen. Warum wollen wir
eckler, in unsern Vergnügungen wähliger, und
gegen kahle Vernünfteleyen nachgebender seyn,
als -- ich will nicht sagen, die Franzosen und
Italiener sind -- sondern, als selbst die Römer
und Griechen waren? War ihr Parasit etwas
anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch
seine eigene, besondere Tracht, in der er in ei-

nem
S 2

todt, Gottſched iſt auch todt: ich daͤchte, wir
zoͤgen ihm das Jaͤckchen wieder an. — Im Ern-
ſte; wenn er unter fremdem Namen zu dulden
iſt, warum nicht auch unter ſeinem? „Er iſt ein
auslaͤndiſches Geſchoͤpf;„ ſagt man. Was
thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter
uns Auslaͤnder waͤren! „Er traͤgt ſich, wie ſich
kein Menſch unter uns traͤgt:„ — ſo braucht er
nicht erſt lange zu ſagen, wer er iſt. „Es iſt
widerſinnig, das nehmliche Individuum alle
Tage in einem andern Stuͤcke erſcheinen zu
ſehen.„ Man muß ihn als kein Individuum,
ſondern als eine ganze Gattung betrachten; es
iſt nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen
im Falken, uͤbermorgen in den falſchen Vertrau-
lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gaſſen,
vorkoͤmmt; ſondern es ſind Harlekine; die Gat-
tung leidet tauſend Varietaͤten; der im Timon
iſt nicht der im Falken; jener lebte in Griechen-
land, dieſer in Frankreich; nur weil ihr Cha-
rakter einerley Hauptzuͤge hat, hat man ihnen
einerley Namen gelaſſen. Warum wollen wir
eckler, in unſern Vergnuͤgungen waͤhliger, und
gegen kahle Vernuͤnfteleyen nachgebender ſeyn,
als — ich will nicht ſagen, die Franzoſen und
Italiener ſind — ſondern, als ſelbſt die Roͤmer
und Griechen waren? War ihr Paraſit etwas
anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch
ſeine eigene, beſondere Tracht, in der er in ei-

nem
S 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0153" n="139"/>
todt, Gott&#x017F;ched i&#x017F;t auch todt: ich da&#x0364;chte, wir<lb/>
zo&#x0364;gen ihm das Ja&#x0364;ckchen wieder an. &#x2014; Im Ern-<lb/>
&#x017F;te; wenn er unter fremdem Namen zu dulden<lb/>
i&#x017F;t, warum nicht auch unter &#x017F;einem? &#x201E;Er i&#x017F;t ein<lb/>
ausla&#x0364;ndi&#x017F;ches Ge&#x017F;cho&#x0364;pf;&#x201E; &#x017F;agt man. Was<lb/>
thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter<lb/>
uns Ausla&#x0364;nder wa&#x0364;ren! &#x201E;Er tra&#x0364;gt &#x017F;ich, wie &#x017F;ich<lb/>
kein Men&#x017F;ch unter uns tra&#x0364;gt:&#x201E; &#x2014; &#x017F;o braucht er<lb/>
nicht er&#x017F;t lange zu &#x017F;agen, wer er i&#x017F;t. &#x201E;Es i&#x017F;t<lb/>
wider&#x017F;innig, das nehmliche Individuum alle<lb/>
Tage in einem andern Stu&#x0364;cke er&#x017F;cheinen zu<lb/>
&#x017F;ehen.&#x201E; Man muß ihn als kein Individuum,<lb/>
&#x017F;ondern als eine ganze Gattung betrachten; es<lb/>
i&#x017F;t nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen<lb/>
im Falken, u&#x0364;bermorgen in den fal&#x017F;chen Vertrau-<lb/>
lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Ga&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
vorko&#x0364;mmt; &#x017F;ondern es &#x017F;ind Harlekine; die Gat-<lb/>
tung leidet tau&#x017F;end Varieta&#x0364;ten; der im Timon<lb/>
i&#x017F;t nicht der im Falken; jener lebte in Griechen-<lb/>
land, die&#x017F;er in Frankreich; nur weil ihr Cha-<lb/>
rakter einerley Hauptzu&#x0364;ge hat, hat man ihnen<lb/>
einerley Namen gela&#x017F;&#x017F;en. Warum wollen wir<lb/>
eckler, in un&#x017F;ern Vergnu&#x0364;gungen wa&#x0364;hliger, und<lb/>
gegen kahle Vernu&#x0364;nfteleyen nachgebender &#x017F;eyn,<lb/>
als &#x2014; ich will nicht &#x017F;agen, die Franzo&#x017F;en und<lb/>
Italiener &#x017F;ind &#x2014; &#x017F;ondern, als &#x017F;elb&#x017F;t die Ro&#x0364;mer<lb/>
und Griechen waren? War ihr Para&#x017F;it etwas<lb/>
anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch<lb/>
&#x017F;eine eigene, be&#x017F;ondere Tracht, in der er in ei-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">S 2</fw><fw place="bottom" type="catch">nem</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[139/0153] todt, Gottſched iſt auch todt: ich daͤchte, wir zoͤgen ihm das Jaͤckchen wieder an. — Im Ern- ſte; wenn er unter fremdem Namen zu dulden iſt, warum nicht auch unter ſeinem? „Er iſt ein auslaͤndiſches Geſchoͤpf;„ ſagt man. Was thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Auslaͤnder waͤren! „Er traͤgt ſich, wie ſich kein Menſch unter uns traͤgt:„ — ſo braucht er nicht erſt lange zu ſagen, wer er iſt. „Es iſt widerſinnig, das nehmliche Individuum alle Tage in einem andern Stuͤcke erſcheinen zu ſehen.„ Man muß ihn als kein Individuum, ſondern als eine ganze Gattung betrachten; es iſt nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen im Falken, uͤbermorgen in den falſchen Vertrau- lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gaſſen, vorkoͤmmt; ſondern es ſind Harlekine; die Gat- tung leidet tauſend Varietaͤten; der im Timon iſt nicht der im Falken; jener lebte in Griechen- land, dieſer in Frankreich; nur weil ihr Cha- rakter einerley Hauptzuͤge hat, hat man ihnen einerley Namen gelaſſen. Warum wollen wir eckler, in unſern Vergnuͤgungen waͤhliger, und gegen kahle Vernuͤnfteleyen nachgebender ſeyn, als — ich will nicht ſagen, die Franzoſen und Italiener ſind — ſondern, als ſelbſt die Roͤmer und Griechen waren? War ihr Paraſit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch ſeine eigene, beſondere Tracht, in der er in ei- nem S 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/153
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/153>, abgerufen am 25.11.2024.