nicht immer Meisterstücke aufgeführet werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indeß ist es gut, wenn das Mittelmäßige für nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urtheilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beybringen will, braucht man es nur aus einan- der zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmäßige Stücke müssen auch schon darum beybehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen haben, in welchen der oder jener Acteur seine ganze Stärke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist.
Die größte Feinheit eines dramatischen Rich- ters zeiget sich darinn, wenn er in jedem Falle des Vergnügens und Mißvergnügens, unfehlbar zu unterscheiden weiß, was und wie viel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schau- spielers, zu setzen sey. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heißt beyde verderben. Jenem wird der Muth benommen, und dieser wird sicher gemacht.
Be-
nicht immer Meiſterſtuͤcke aufgefuͤhret werden ſollten, ſo ſieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indeß iſt es gut, wenn das Mittelmaͤßige fuͤr nichts mehr ausgegeben wird, als es iſt; und der unbefriedigte Zuſchauer wenigſtens daran urtheilen lernt. Einem Menſchen von geſundem Verſtande, wenn man ihm Geſchmack beybringen will, braucht man es nur aus einan- der zu ſetzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewiſſe mittelmaͤßige Stuͤcke muͤſſen auch ſchon darum beybehalten werden, weil ſie gewiſſe vorzuͤgliche Rollen haben, in welchen der oder jener Acteur ſeine ganze Staͤrke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine muſikaliſche Kompoſition, weil der Text dazu elend iſt.
Die groͤßte Feinheit eines dramatiſchen Rich- ters zeiget ſich darinn, wenn er in jedem Falle des Vergnuͤgens und Mißvergnuͤgens, unfehlbar zu unterſcheiden weiß, was und wie viel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schau- ſpielers, zu ſetzen ſey. Den einen um etwas tadeln, was der andere verſehen hat, heißt beyde verderben. Jenem wird der Muth benommen, und dieſer wird ſicher gemacht.
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[0012]
nicht immer Meiſterſtuͤcke aufgefuͤhret werden
ſollten, ſo ſieht man wohl, woran die Schuld
liegt. Indeß iſt es gut, wenn das Mittelmaͤßige
fuͤr nichts mehr ausgegeben wird, als es iſt;
und der unbefriedigte Zuſchauer wenigſtens
daran urtheilen lernt. Einem Menſchen von
geſundem Verſtande, wenn man ihm Geſchmack
beybringen will, braucht man es nur aus einan-
der zu ſetzen, warum ihm etwas nicht gefallen
hat. Gewiſſe mittelmaͤßige Stuͤcke muͤſſen auch
ſchon darum beybehalten werden, weil ſie gewiſſe
vorzuͤgliche Rollen haben, in welchen der oder
jener Acteur ſeine ganze Staͤrke zeigen kann.
So verwirft man nicht gleich eine muſikaliſche
Kompoſition, weil der Text dazu elend iſt.
Die groͤßte Feinheit eines dramatiſchen Rich-
ters zeiget ſich darinn, wenn er in jedem Falle
des Vergnuͤgens und Mißvergnuͤgens, unfehlbar
zu unterſcheiden weiß, was und wie viel davon
auf die Rechnung des Dichters, oder des Schau-
ſpielers, zu ſetzen ſey. Den einen um etwas
tadeln, was der andere verſehen hat, heißt beyde
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/12>, abgerufen am 27.11.2024.
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