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Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

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Einleitung.
nicht fest steht, gaben ihnen dieselbe relative Lage wieder. Geben wir nun auch
Schmidts Hypothese von der Lage der Stämme in der Urheimat zu, so haben wir
hier doch einen deutlichen Fall, wo zwei neben einander gelegene Dialekte, von
denen der eine, das Cechische, als Vermittler zwischen dem späteren West-
slavischen und Südslavischen angesehen werden soll, völlig von einander getrennt
wurden und zwar durch Wanderung nach verschiedenen Richtungen. Nun glaube
ich mit Schmidt, dass zwischen dem Slovenischen und Serbochorvatischen keine
scharfen Grenzen vorhanden sind noch je waren; die beiden Sprachen zeigen
ferner Erscheinungen, die nur ihnen allein gehören, weder auf der einen Seite
von den Bulgaren noch auf der anderen von den Cechen getheilt werden, und
ich sehe nicht ein, was uns hindern kann, für das Slovenisch-serbische ein Son-
derleben anzunehmen, in welchem es getrennt von den übrigen Verwandten
diese Eigenthümlichkeiten entwickelte; wobei die etwaige einstige Mittelstellung
des Slovenischen als Uebergang zum späteren Westslavischen ganz gleichgültig
ist. Also auch hier widerspricht die Stammbaumtheorie der Uebergangstheorie
nicht, und das Beispiel der slavischen Sprachen kann so gut auf die eine wie auf
die andere passen.

Ueber Schmidts Zeichnung möchte ich bemerken, dass sie zwar deutlich
genug ist, aber schwerlich so das ideale Bild der Lage einer Reihe von Dialekten
gezeichnet werden darf. Man darf den Umfang eines Sprachgebietes, wenn man
von allen zufälligen Grenzkrümmungen absieht, durch eine Kreislinie als ideale
Peripherie darstellen, aber die Theilung des eingeschlossenen Raumes durch
Radien ist eine rein willkürliche, und doch beruht auf einer solchen Theilung
die Möglichkeit der gegenseitigen Lage der Stämme, wie sie Schmidt sich denkt.
Sobald man irgend welche andere Theilungslinien anwendet, ergeben sich andere
Berührungen, und man wird zugeben, dass irgend ein anderer Theilungsmodus
nach der Art, wie wir erfahrungsmässig Dialekte gruppirt sehen, bei weitem
wahrscheinlicher ist. Indess ich will darauf weiter kein Gewicht legen, alle
solche Bilder sind ihrer Natur nach unvollkommen.

In allem bisherigen habe ich mich absichtlich auf das Detail der sprachlichen
Kriterien, die Schmidts Ansicht stützen, nicht eingelassen und die Richtigkeit und
Beweiskraft seiner Aufstellungen zugegeben. Es kam mir zunächst nur darauf
an zu zeigen, dass zwischen den beiden Ansichten kein principieller Widerspruch
besteht, dass die Uebergangsreihe Schmidts in die Urheimat des ganzen Stammes
oder der betreffenden Familie verlegt werden muss, und dass derjenige, der
daran festhält, dass es innerhalb der indogermanischen Sprachen in der That
scharf trennbare, durch geographische Sonderung entstandene Gruppen gibt,
nur zuzugeben hat, dass auf dem Boden der Urheimat bereits dialektische
Unterschiede bestanden, was jeder ohne weiteres zugeben kann. Man sollte nicht
sagen: das Verhältniss der indogermanischen Sprachen unter einander ist nur
verständlich durch die Annahme continuirlicher Uebergangsstufen, sondern: ge-
wisse Erscheinungen, einzelne Uebereinstimmungen indogermanischer Sprachen
lassen sich vielleicht nur erklären, wenn sich in der Urheimat Sprachtheile be-
rührt haben, die später aus einander gerathen sind, das spätere Verhältniss der

Einleitung.
nicht fest steht, gaben ihnen dieselbe relative Lage wieder. Geben wir nun auch
Schmidts Hypothese von der Lage der Stämme in der Urheimat zu, so haben wir
hier doch einen deutlichen Fall, wo zwei neben einander gelegene Dialekte, von
denen der eine, das Čechische, als Vermittler zwischen dem späteren West-
slavischen und Südslavischen angesehen werden soll, völlig von einander getrennt
wurden und zwar durch Wanderung nach verschiedenen Richtungen. Nun glaube
ich mit Schmidt, dass zwischen dem Slovenischen und Serbochorvatischen keine
scharfen Grenzen vorhanden sind noch je waren; die beiden Sprachen zeigen
ferner Erscheinungen, die nur ihnen allein gehören, weder auf der einen Seite
von den Bulgaren noch auf der anderen von den Čechen getheilt werden, und
ich sehe nicht ein, was uns hindern kann, für das Slovenisch-serbische ein Son-
derleben anzunehmen, in welchem es getrennt von den übrigen Verwandten
diese Eigenthümlichkeiten entwickelte; wobei die etwaige einstige Mittelstellung
des Slovenischen als Uebergang zum späteren Westslavischen ganz gleichgültig
ist. Also auch hier widerspricht die Stammbaumtheorie der Uebergangstheorie
nicht, und das Beispiel der slavischen Sprachen kann so gut auf die eine wie auf
die andere passen.

Ueber Schmidts Zeichnung möchte ich bemerken, dass sie zwar deutlich
genug ist, aber schwerlich so das ideale Bild der Lage einer Reihe von Dialekten
gezeichnet werden darf. Man darf den Umfang eines Sprachgebietes, wenn man
von allen zufälligen Grenzkrümmungen absieht, durch eine Kreislinie als ideale
Peripherie darstellen, aber die Theilung des eingeschlossenen Raumes durch
Radien ist eine rein willkürliche, und doch beruht auf einer solchen Theilung
die Möglichkeit der gegenseitigen Lage der Stämme, wie sie Schmidt sich denkt.
Sobald man irgend welche andere Theilungslinien anwendet, ergeben sich andere
Berührungen, und man wird zugeben, dass irgend ein anderer Theilungsmodus
nach der Art, wie wir erfahrungsmässig Dialekte gruppirt sehen, bei weitem
wahrscheinlicher ist. Indess ich will darauf weiter kein Gewicht legen, alle
solche Bilder sind ihrer Natur nach unvollkommen.

In allem bisherigen habe ich mich absichtlich auf das Detail der sprachlichen
Kriterien, die Schmidts Ansicht stützen, nicht eingelassen und die Richtigkeit und
Beweiskraft seiner Aufstellungen zugegeben. Es kam mir zunächst nur darauf
an zu zeigen, dass zwischen den beiden Ansichten kein principieller Widerspruch
besteht, dass die Uebergangsreihe Schmidts in die Urheimat des ganzen Stammes
oder der betreffenden Familie verlegt werden muss, und dass derjenige, der
daran festhält, dass es innerhalb der indogermanischen Sprachen in der That
scharf trennbare, durch geographische Sonderung entstandene Gruppen gibt,
nur zuzugeben hat, dass auf dem Boden der Urheimat bereits dialektische
Unterschiede bestanden, was jeder ohne weiteres zugeben kann. Man sollte nicht
sagen: das Verhältniss der indogermanischen Sprachen unter einander ist nur
verständlich durch die Annahme continuirlicher Uebergangsstufen, sondern: ge-
wisse Erscheinungen, einzelne Uebereinstimmungen indogermanischer Sprachen
lassen sich vielleicht nur erklären, wenn sich in der Urheimat Sprachtheile be-
rührt haben, die später aus einander gerathen sind, das spätere Verhältniss der

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[XV/0021] Einleitung. nicht fest steht, gaben ihnen dieselbe relative Lage wieder. Geben wir nun auch Schmidts Hypothese von der Lage der Stämme in der Urheimat zu, so haben wir hier doch einen deutlichen Fall, wo zwei neben einander gelegene Dialekte, von denen der eine, das Čechische, als Vermittler zwischen dem späteren West- slavischen und Südslavischen angesehen werden soll, völlig von einander getrennt wurden und zwar durch Wanderung nach verschiedenen Richtungen. Nun glaube ich mit Schmidt, dass zwischen dem Slovenischen und Serbochorvatischen keine scharfen Grenzen vorhanden sind noch je waren; die beiden Sprachen zeigen ferner Erscheinungen, die nur ihnen allein gehören, weder auf der einen Seite von den Bulgaren noch auf der anderen von den Čechen getheilt werden, und ich sehe nicht ein, was uns hindern kann, für das Slovenisch-serbische ein Son- derleben anzunehmen, in welchem es getrennt von den übrigen Verwandten diese Eigenthümlichkeiten entwickelte; wobei die etwaige einstige Mittelstellung des Slovenischen als Uebergang zum späteren Westslavischen ganz gleichgültig ist. Also auch hier widerspricht die Stammbaumtheorie der Uebergangstheorie nicht, und das Beispiel der slavischen Sprachen kann so gut auf die eine wie auf die andere passen. Ueber Schmidts Zeichnung möchte ich bemerken, dass sie zwar deutlich genug ist, aber schwerlich so das ideale Bild der Lage einer Reihe von Dialekten gezeichnet werden darf. Man darf den Umfang eines Sprachgebietes, wenn man von allen zufälligen Grenzkrümmungen absieht, durch eine Kreislinie als ideale Peripherie darstellen, aber die Theilung des eingeschlossenen Raumes durch Radien ist eine rein willkürliche, und doch beruht auf einer solchen Theilung die Möglichkeit der gegenseitigen Lage der Stämme, wie sie Schmidt sich denkt. Sobald man irgend welche andere Theilungslinien anwendet, ergeben sich andere Berührungen, und man wird zugeben, dass irgend ein anderer Theilungsmodus nach der Art, wie wir erfahrungsmässig Dialekte gruppirt sehen, bei weitem wahrscheinlicher ist. Indess ich will darauf weiter kein Gewicht legen, alle solche Bilder sind ihrer Natur nach unvollkommen. In allem bisherigen habe ich mich absichtlich auf das Detail der sprachlichen Kriterien, die Schmidts Ansicht stützen, nicht eingelassen und die Richtigkeit und Beweiskraft seiner Aufstellungen zugegeben. Es kam mir zunächst nur darauf an zu zeigen, dass zwischen den beiden Ansichten kein principieller Widerspruch besteht, dass die Uebergangsreihe Schmidts in die Urheimat des ganzen Stammes oder der betreffenden Familie verlegt werden muss, und dass derjenige, der daran festhält, dass es innerhalb der indogermanischen Sprachen in der That scharf trennbare, durch geographische Sonderung entstandene Gruppen gibt, nur zuzugeben hat, dass auf dem Boden der Urheimat bereits dialektische Unterschiede bestanden, was jeder ohne weiteres zugeben kann. Man sollte nicht sagen: das Verhältniss der indogermanischen Sprachen unter einander ist nur verständlich durch die Annahme continuirlicher Uebergangsstufen, sondern: ge- wisse Erscheinungen, einzelne Uebereinstimmungen indogermanischer Sprachen lassen sich vielleicht nur erklären, wenn sich in der Urheimat Sprachtheile be- rührt haben, die später aus einander gerathen sind, das spätere Verhältniss der

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Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. XV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/21>, abgerufen am 23.04.2024.