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Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

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Einleitung.
historischer Zeit sind vielfach neue Gebiete von Indogermanen besetzt worden,
und wenn irgend ein Schluss auf längst vergangene ethnographische Verhältnisse
Geltung hat, so ist es der, dass die Indogermanen einmal auf einem verhältniss-
mässig eng begrenzten Raum zusammengewohnt und von diesem aus sich ver-
breitet haben müssen. Von einer solchen Verbreitung in vorhistorischer Zeit
können wir uns eine Vorstellung nur erwerben durch Betrachtung der in histo-
rischer Zeit vorgekommenen Fälle, und aus diesen ergibt sich, dass die Aus-
breitung auf zweierlei Weise geschehen kann: entweder ein Theil des Volkes
wandert aus und wird geographisch völlig getrennt von dem anderen Theil, vgl.
die Wanderung der Angelsachsen nach Britannien, der Norweger nach Island,
der Südslaven in die Donauländer, oder andererseits die natürliche Vermehrung
der Volkszahl nöthigt das Volk durch Occupation des Landes an seinen Grenzen,
sei dies unbewohnt oder bewohnt, in letzterem Fall mit Verdrängung oder Auf-
saugung der alten Bewohner, sein Gebiet zu erweitern, wobei der geographische
Zusammenhang bestehen bleibt; ein solches Beispiel gibt die enorme Aus-
breitung des russischen Volkes nach Norden, Osten, Süden während des uns
historisch bekannten Zeitraums von etwa 1000 Jahren. Die zuletzt beschriebene
allmähliche Art der Gebietsvermehrung eines Volkes vollzieht sich natürlich viel
langsamer als die durch Auswanderung, und in älterer Zeit langsamer als jetzt.
Es versteht sich, dass die allmähliche Ausbreitung kein absolutes Hinderniss
einer Wanderung ist, nur wird diese da, wo das Volk Raum zu jener hat, we-
niger leicht eintreten.

Es fragt sich nun, welcher von den beiden an sich möglichen Vorgängen für
die Ausbreitung des indogermanischen Urvolkes der wahrscheinlichste ist, Wan-
derungen oder allmähliches ununterbrochenes Vorwärtsschieben. Es braucht
kaum erwähnt zu werden, dass der Annahme von trennenden Wanderungen
nach der Analogie geschichtlich bekannter Vorgänge von historischer Seite gar
nichts im Wege steht. Versuchen wir, uns den Hergang und das Resultat bei
allmählichem ununterbrochenem Fortschieben vorzustellen. Im ersten Jahrhundert
vor und nach Christo, um eine Zeit zu nennen, wo die Interpretation der Ueber-
lieferung nicht mehr zweifelhaft ist, haben wir von allen indogermanischen Völkern
mit Ausnahme der Slaven und Litauer bestimmte Nachrichten, und auch das
Gebiet dieser beiden lässt sich mit einiger Sicherheit als das heutige mittlere und
westliche Russland bis an die Ostseeküste, oder allgemeiner als das Land östlich
von Weichsel und Karpaten bestimmen; wir können uns also ein wenigstens
hier genügendes Bild von der damaligen Ausbreitung der Indogermanen machen.
Indogermanen reichten damals vom Ganges bis nach Britannien, und ferner,
wenn man auch alle streitigen Fragen, z. B. nach der Zugehörigkeit einer Anzahl
kleinasiatischer Stämme, die das geographische Bindeglied zwischen Iraniern
und Europäern bildeten, bei Seite lässt, sicher berührten sich in jener Zeit
mehrere indogermanische Völker unmittelbar, so die Kelten und Germanen an
Rhein und Donau, höchst wahrscheinlich Slaven und Litauer im Osten mit Ger-
manen, wahrscheinlich Slaven und iranische Stämme im Nordpontuslande, ferner
Griechen mit indogermanischen (illyrisch-thrakisch-getischen) Stämmen im Nor-

Einleitung.
historischer Zeit sind vielfach neue Gebiete von Indogermanen besetzt worden,
und wenn irgend ein Schluss auf längst vergangene ethnographische Verhältnisse
Geltung hat, so ist es der, dass die Indogermanen einmal auf einem verhältniss-
mässig eng begrenzten Raum zusammengewohnt und von diesem aus sich ver-
breitet haben müssen. Von einer solchen Verbreitung in vorhistorischer Zeit
können wir uns eine Vorstellung nur erwerben durch Betrachtung der in histo-
rischer Zeit vorgekommenen Fälle, und aus diesen ergibt sich, dass die Aus-
breitung auf zweierlei Weise geschehen kann: entweder ein Theil des Volkes
wandert aus und wird geographisch völlig getrennt von dem anderen Theil, vgl.
die Wanderung der Angelsachsen nach Britannien, der Norweger nach Island,
der Südslaven in die Donauländer, oder andererseits die natürliche Vermehrung
der Volkszahl nöthigt das Volk durch Occupation des Landes an seinen Grenzen,
sei dies unbewohnt oder bewohnt, in letzterem Fall mit Verdrängung oder Auf-
saugung der alten Bewohner, sein Gebiet zu erweitern, wobei der geographische
Zusammenhang bestehen bleibt; ein solches Beispiel gibt die enorme Aus-
breitung des russischen Volkes nach Norden, Osten, Süden während des uns
historisch bekannten Zeitraums von etwa 1000 Jahren. Die zuletzt beschriebene
allmähliche Art der Gebietsvermehrung eines Volkes vollzieht sich natürlich viel
langsamer als die durch Auswanderung, und in älterer Zeit langsamer als jetzt.
Es versteht sich, dass die allmähliche Ausbreitung kein absolutes Hinderniss
einer Wanderung ist, nur wird diese da, wo das Volk Raum zu jener hat, we-
niger leicht eintreten.

Es fragt sich nun, welcher von den beiden an sich möglichen Vorgängen für
die Ausbreitung des indogermanischen Urvolkes der wahrscheinlichste ist, Wan-
derungen oder allmähliches ununterbrochenes Vorwärtsschieben. Es braucht
kaum erwähnt zu werden, dass der Annahme von trennenden Wanderungen
nach der Analogie geschichtlich bekannter Vorgänge von historischer Seite gar
nichts im Wege steht. Versuchen wir, uns den Hergang und das Resultat bei
allmählichem ununterbrochenem Fortschieben vorzustellen. Im ersten Jahrhundert
vor und nach Christo, um eine Zeit zu nennen, wo die Interpretation der Ueber-
lieferung nicht mehr zweifelhaft ist, haben wir von allen indogermanischen Völkern
mit Ausnahme der Slaven und Litauer bestimmte Nachrichten, und auch das
Gebiet dieser beiden lässt sich mit einiger Sicherheit als das heutige mittlere und
westliche Russland bis an die Ostseeküste, oder allgemeiner als das Land östlich
von Weichsel und Karpaten bestimmen; wir können uns also ein wenigstens
hier genügendes Bild von der damaligen Ausbreitung der Indogermanen machen.
Indogermanen reichten damals vom Ganges bis nach Britannien, und ferner,
wenn man auch alle streitigen Fragen, z. B. nach der Zugehörigkeit einer Anzahl
kleinasiatischer Stämme, die das geographische Bindeglied zwischen Iraniern
und Europäern bildeten, bei Seite lässt, sicher berührten sich in jener Zeit
mehrere indogermanische Völker unmittelbar, so die Kelten und Germanen an
Rhein und Donau, höchst wahrscheinlich Slaven und Litauer im Osten mit Ger-
manen, wahrscheinlich Slaven und iranische Stämme im Nordpontuslande, ferner
Griechen mit indogermanischen (illyrisch-thrakisch-getischen) Stämmen im Nor-

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[X/0016] Einleitung. historischer Zeit sind vielfach neue Gebiete von Indogermanen besetzt worden, und wenn irgend ein Schluss auf längst vergangene ethnographische Verhältnisse Geltung hat, so ist es der, dass die Indogermanen einmal auf einem verhältniss- mässig eng begrenzten Raum zusammengewohnt und von diesem aus sich ver- breitet haben müssen. Von einer solchen Verbreitung in vorhistorischer Zeit können wir uns eine Vorstellung nur erwerben durch Betrachtung der in histo- rischer Zeit vorgekommenen Fälle, und aus diesen ergibt sich, dass die Aus- breitung auf zweierlei Weise geschehen kann: entweder ein Theil des Volkes wandert aus und wird geographisch völlig getrennt von dem anderen Theil, vgl. die Wanderung der Angelsachsen nach Britannien, der Norweger nach Island, der Südslaven in die Donauländer, oder andererseits die natürliche Vermehrung der Volkszahl nöthigt das Volk durch Occupation des Landes an seinen Grenzen, sei dies unbewohnt oder bewohnt, in letzterem Fall mit Verdrängung oder Auf- saugung der alten Bewohner, sein Gebiet zu erweitern, wobei der geographische Zusammenhang bestehen bleibt; ein solches Beispiel gibt die enorme Aus- breitung des russischen Volkes nach Norden, Osten, Süden während des uns historisch bekannten Zeitraums von etwa 1000 Jahren. Die zuletzt beschriebene allmähliche Art der Gebietsvermehrung eines Volkes vollzieht sich natürlich viel langsamer als die durch Auswanderung, und in älterer Zeit langsamer als jetzt. Es versteht sich, dass die allmähliche Ausbreitung kein absolutes Hinderniss einer Wanderung ist, nur wird diese da, wo das Volk Raum zu jener hat, we- niger leicht eintreten. Es fragt sich nun, welcher von den beiden an sich möglichen Vorgängen für die Ausbreitung des indogermanischen Urvolkes der wahrscheinlichste ist, Wan- derungen oder allmähliches ununterbrochenes Vorwärtsschieben. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass der Annahme von trennenden Wanderungen nach der Analogie geschichtlich bekannter Vorgänge von historischer Seite gar nichts im Wege steht. Versuchen wir, uns den Hergang und das Resultat bei allmählichem ununterbrochenem Fortschieben vorzustellen. Im ersten Jahrhundert vor und nach Christo, um eine Zeit zu nennen, wo die Interpretation der Ueber- lieferung nicht mehr zweifelhaft ist, haben wir von allen indogermanischen Völkern mit Ausnahme der Slaven und Litauer bestimmte Nachrichten, und auch das Gebiet dieser beiden lässt sich mit einiger Sicherheit als das heutige mittlere und westliche Russland bis an die Ostseeküste, oder allgemeiner als das Land östlich von Weichsel und Karpaten bestimmen; wir können uns also ein wenigstens hier genügendes Bild von der damaligen Ausbreitung der Indogermanen machen. Indogermanen reichten damals vom Ganges bis nach Britannien, und ferner, wenn man auch alle streitigen Fragen, z. B. nach der Zugehörigkeit einer Anzahl kleinasiatischer Stämme, die das geographische Bindeglied zwischen Iraniern und Europäern bildeten, bei Seite lässt, sicher berührten sich in jener Zeit mehrere indogermanische Völker unmittelbar, so die Kelten und Germanen an Rhein und Donau, höchst wahrscheinlich Slaven und Litauer im Osten mit Ger- manen, wahrscheinlich Slaven und iranische Stämme im Nordpontuslande, ferner Griechen mit indogermanischen (illyrisch-thrakisch-getischen) Stämmen im Nor-

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Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/16>, abgerufen am 28.03.2024.