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Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

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Einleitung.

Vergleichende Grammatik einer gewissen Anzahl indogermanischer Sprachen
dem Ganzen des Sprachstammes oder anderen Theilen desselben gegenüber ist
nur dann möglich, wenn jene Sprachen eine über die Periode der Ursprache oder
die Entwicklungsperiode einer grösseren Gruppe hinausreichende gemeinsame
Geschichte durchlaufen und innerhalb dieser gewisse, von der Art aller Ver-
wandten abweichende Züge angenommen haben. Von dem an sich denkbaren
Fall, dass die Zeit der gemeinsamen Geschichte zu kurz gewesen sei, um einer
eigenartigen Entwicklung Raum zu geben, kann man, als von einem nicht nach-
weisbaren, völlig absehen.

Für die Zusammenschliessung einer bestimmten Anzahl indogermanischer
Sprachen zu einem engeren Ganzen kommt es also darauf an, solche Züge zu
finden, die nicht überhaupt in jeder Sprachentwicklung vorkommen können und
daher, wenn auch mehreren Sprachen gemeinsam, doch als auf allgemeinen Nei-
gungen oder Gesetzen beruhend vom historischen Gesichtspunkt aus nur zufällige
Uebereinstimmungen sind, die für eine engere Einheit nichts beweisen. Die An-
sichten über den Werth der zu diesem Zwecke gesuchten Beweismittel, über die
Grenze zwischen zufälligen Uebereinstimmungen und solchen, die auf gemein-
samer geschichtlicher Entwicklung beruhen, waren nie ganz fest und schwanken
gerade jetzt mehr als je.

Es schien freilich eine Zeit lang, als sei die Frage nach der Gruppirung der
indogermanischen Sprachen zu einem gewissen Abschluss gekommen. Die enge
Verbindung der beiden asiatischen Familien lag auf der Hand, die des Litauischen
und Slavischen ebenfalls. Ferner ergab es sich, dass das Germanische weder
mit dem Griechischen noch Italischen noch Keltischen einen engen Zusammen-
hang habe, jedenfalls weit eher mit dem Litauisch-slavischen zu einer Gruppe
zu verbinden sei. Man erhielt also auf diese Weise drei Abtheilungen des Sprach-
stammes, die asiatische, südeuropäische, nordeuropäische, über deren richtige
Aufstellung kaum ein Zweifel bestand, wenn man auch unsicher blieb, wie inner-
halb der südeuropäischen die italischen Sprachen zu stellen seien, ob dem Kel-
tischen oder Griechischen näher.

Bei dieser Gruppirung blieb es nicht, in verschiedener Weise wurden zwei
jener Gruppen wieder zu einer engeren Einheit verbunden. Schleicher, wie
bekannt, nahm an, die südeuropäische stehe zu der asiatischen in näherem Ver-
hältniss, diese beiden seien nach Abtrennung der nordeuropäischen länger ver-

Leskien, slav.-lit. u. germ. Decl. *
Einleitung.

Vergleichende Grammatik einer gewissen Anzahl indogermanischer Sprachen
dem Ganzen des Sprachstammes oder anderen Theilen desselben gegenüber ist
nur dann möglich, wenn jene Sprachen eine über die Periode der Ursprache oder
die Entwicklungsperiode einer grösseren Gruppe hinausreichende gemeinsame
Geschichte durchlaufen und innerhalb dieser gewisse, von der Art aller Ver-
wandten abweichende Züge angenommen haben. Von dem an sich denkbaren
Fall, dass die Zeit der gemeinsamen Geschichte zu kurz gewesen sei, um einer
eigenartigen Entwicklung Raum zu geben, kann man, als von einem nicht nach-
weisbaren, völlig absehen.

Für die Zusammenschliessung einer bestimmten Anzahl indogermanischer
Sprachen zu einem engeren Ganzen kommt es also darauf an, solche Züge zu
finden, die nicht überhaupt in jeder Sprachentwicklung vorkommen können und
daher, wenn auch mehreren Sprachen gemeinsam, doch als auf allgemeinen Nei-
gungen oder Gesetzen beruhend vom historischen Gesichtspunkt aus nur zufällige
Uebereinstimmungen sind, die für eine engere Einheit nichts beweisen. Die An-
sichten über den Werth der zu diesem Zwecke gesuchten Beweismittel, über die
Grenze zwischen zufälligen Uebereinstimmungen und solchen, die auf gemein-
samer geschichtlicher Entwicklung beruhen, waren nie ganz fest und schwanken
gerade jetzt mehr als je.

Es schien freilich eine Zeit lang, als sei die Frage nach der Gruppirung der
indogermanischen Sprachen zu einem gewissen Abschluss gekommen. Die enge
Verbindung der beiden asiatischen Familien lag auf der Hand, die des Litauischen
und Slavischen ebenfalls. Ferner ergab es sich, dass das Germanische weder
mit dem Griechischen noch Italischen noch Keltischen einen engen Zusammen-
hang habe, jedenfalls weit eher mit dem Litauisch-slavischen zu einer Gruppe
zu verbinden sei. Man erhielt also auf diese Weise drei Abtheilungen des Sprach-
stammes, die asiatische, südeuropäische, nordeuropäische, über deren richtige
Aufstellung kaum ein Zweifel bestand, wenn man auch unsicher blieb, wie inner-
halb der südeuropäischen die italischen Sprachen zu stellen seien, ob dem Kel-
tischen oder Griechischen näher.

Bei dieser Gruppirung blieb es nicht, in verschiedener Weise wurden zwei
jener Gruppen wieder zu einer engeren Einheit verbunden. Schleicher, wie
bekannt, nahm an, die südeuropäische stehe zu der asiatischen in näherem Ver-
hältniss, diese beiden seien nach Abtrennung der nordeuropäischen länger ver-

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[[V]/0011] Einleitung. Vergleichende Grammatik einer gewissen Anzahl indogermanischer Sprachen dem Ganzen des Sprachstammes oder anderen Theilen desselben gegenüber ist nur dann möglich, wenn jene Sprachen eine über die Periode der Ursprache oder die Entwicklungsperiode einer grösseren Gruppe hinausreichende gemeinsame Geschichte durchlaufen und innerhalb dieser gewisse, von der Art aller Ver- wandten abweichende Züge angenommen haben. Von dem an sich denkbaren Fall, dass die Zeit der gemeinsamen Geschichte zu kurz gewesen sei, um einer eigenartigen Entwicklung Raum zu geben, kann man, als von einem nicht nach- weisbaren, völlig absehen. Für die Zusammenschliessung einer bestimmten Anzahl indogermanischer Sprachen zu einem engeren Ganzen kommt es also darauf an, solche Züge zu finden, die nicht überhaupt in jeder Sprachentwicklung vorkommen können und daher, wenn auch mehreren Sprachen gemeinsam, doch als auf allgemeinen Nei- gungen oder Gesetzen beruhend vom historischen Gesichtspunkt aus nur zufällige Uebereinstimmungen sind, die für eine engere Einheit nichts beweisen. Die An- sichten über den Werth der zu diesem Zwecke gesuchten Beweismittel, über die Grenze zwischen zufälligen Uebereinstimmungen und solchen, die auf gemein- samer geschichtlicher Entwicklung beruhen, waren nie ganz fest und schwanken gerade jetzt mehr als je. Es schien freilich eine Zeit lang, als sei die Frage nach der Gruppirung der indogermanischen Sprachen zu einem gewissen Abschluss gekommen. Die enge Verbindung der beiden asiatischen Familien lag auf der Hand, die des Litauischen und Slavischen ebenfalls. Ferner ergab es sich, dass das Germanische weder mit dem Griechischen noch Italischen noch Keltischen einen engen Zusammen- hang habe, jedenfalls weit eher mit dem Litauisch-slavischen zu einer Gruppe zu verbinden sei. Man erhielt also auf diese Weise drei Abtheilungen des Sprach- stammes, die asiatische, südeuropäische, nordeuropäische, über deren richtige Aufstellung kaum ein Zweifel bestand, wenn man auch unsicher blieb, wie inner- halb der südeuropäischen die italischen Sprachen zu stellen seien, ob dem Kel- tischen oder Griechischen näher. Bei dieser Gruppirung blieb es nicht, in verschiedener Weise wurden zwei jener Gruppen wieder zu einer engeren Einheit verbunden. Schleicher, wie bekannt, nahm an, die südeuropäische stehe zu der asiatischen in näherem Ver- hältniss, diese beiden seien nach Abtrennung der nordeuropäischen länger ver- Leskien, slav.-lit. u. germ. Decl. *

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Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/11>, abgerufen am 28.03.2024.