Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.meine Herren? Jn jeder ihrer kleinsten Hand- lungen, Schicksalswechsel und Lebensstössen? Jn ihrer immer regen Gegenwürkung und Gei- stesgrösse? Weilt ihr lieber an der Moorla- che, als an der grünen See in unauslöschli- cher Bewegung und dem hellen Felsen mitten inn? Ja, meine Herren! wenn Sie den Hel- den nicht der Mühe werth achten, nach seinen Schicksalen zu fragen, so wird Jhnen sein Schicksal nicht der Mühe werth dünken, sich nach dem Helden umzusehen. Denn der Held allein ist der Schlüssel zu seinen Schicksalen. Ganz anders ists mit der Komödie. Mei- gen
meine Herren? Jn jeder ihrer kleinſten Hand- lungen, Schickſalswechſel und Lebensſtoͤſſen? Jn ihrer immer regen Gegenwuͤrkung und Gei- ſtesgroͤſſe? Weilt ihr lieber an der Moorla- che, als an der gruͤnen See in unausloͤſchli- cher Bewegung und dem hellen Felſen mitten inn? Ja, meine Herren! wenn Sie den Hel- den nicht der Muͤhe werth achten, nach ſeinen Schickſalen zu fragen, ſo wird Jhnen ſein Schickſal nicht der Muͤhe werth duͤnken, ſich nach dem Helden umzuſehen. Denn der Held allein iſt der Schluͤſſel zu ſeinen Schickſalen. Ganz anders iſts mit der Komoͤdie. Mei- gen
<TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0060" n="54"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> meine Herren? Jn jeder ihrer kleinſten Hand-<lb/> lungen, Schickſalswechſel und Lebensſtoͤſſen?<lb/> Jn ihrer immer regen Gegenwuͤrkung und Gei-<lb/> ſtesgroͤſſe? Weilt ihr lieber an der Moorla-<lb/> che, als an der gruͤnen See in unausloͤſchli-<lb/> cher Bewegung und dem hellen Felſen mitten<lb/> inn? Ja, meine Herren! wenn Sie den Hel-<lb/> den nicht der Muͤhe werth achten, nach ſeinen<lb/> Schickſalen zu fragen, ſo wird Jhnen ſein<lb/> Schickſal nicht der Muͤhe werth duͤnken, ſich<lb/> nach dem Helden umzuſehen. Denn der Held<lb/> allein iſt der Schluͤſſel zu ſeinen Schickſalen.</p><lb/> <p>Ganz anders iſts mit der Komoͤdie. Mei-<lb/> ner Meynung nach waͤre immer der Hauptge-<lb/> danke einer Komoͤdie <hi rendition="#g">eine Sache,</hi> einer<lb/> Tragoͤdie <hi rendition="#g">eine Perſon</hi>. Eine Misheurath,<lb/> ein Fuͤndling, irgend eine Grille eines ſeltſa-<lb/> men Kopfs (die Perſon darf uns weiter nicht<lb/> bekannt ſeyn, als in ſo fern ihr Charakter die-<lb/> ſe Grille, dieſe Meynung, ſelbſt dieſes Syſtem<lb/> veranlaßt haben kann: wir verlangen hier nicht<lb/> die <hi rendition="#g">ganze</hi> Perſon zu kennen.) Sehen Sie,<lb/> meine Herren, das waͤre ſo meine Meynung<lb/> uͤber Shakeſpears Komoͤdien — und alle Ko-<lb/> moͤdien, die geſchrieben ſind und geſchrieben<lb/> werden koͤnnen. Die Perſonen ſind fuͤr die<lb/> Handlungen da — fuͤr die artigen Erfolge,<lb/> Wirkungen, Gegenwirkungen, ein Kreiß her-<lb/> umgezogen, der ſich um eine Hauptidee dreht —<lb/> und es iſt eine Komoͤdie. Ja warlich, denn<lb/> was ſoll ſonſt Komoͤdie in der Welt ſeyn? Fra-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">gen</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [54/0060]
meine Herren? Jn jeder ihrer kleinſten Hand-
lungen, Schickſalswechſel und Lebensſtoͤſſen?
Jn ihrer immer regen Gegenwuͤrkung und Gei-
ſtesgroͤſſe? Weilt ihr lieber an der Moorla-
che, als an der gruͤnen See in unausloͤſchli-
cher Bewegung und dem hellen Felſen mitten
inn? Ja, meine Herren! wenn Sie den Hel-
den nicht der Muͤhe werth achten, nach ſeinen
Schickſalen zu fragen, ſo wird Jhnen ſein
Schickſal nicht der Muͤhe werth duͤnken, ſich
nach dem Helden umzuſehen. Denn der Held
allein iſt der Schluͤſſel zu ſeinen Schickſalen.
Ganz anders iſts mit der Komoͤdie. Mei-
ner Meynung nach waͤre immer der Hauptge-
danke einer Komoͤdie eine Sache, einer
Tragoͤdie eine Perſon. Eine Misheurath,
ein Fuͤndling, irgend eine Grille eines ſeltſa-
men Kopfs (die Perſon darf uns weiter nicht
bekannt ſeyn, als in ſo fern ihr Charakter die-
ſe Grille, dieſe Meynung, ſelbſt dieſes Syſtem
veranlaßt haben kann: wir verlangen hier nicht
die ganze Perſon zu kennen.) Sehen Sie,
meine Herren, das waͤre ſo meine Meynung
uͤber Shakeſpears Komoͤdien — und alle Ko-
moͤdien, die geſchrieben ſind und geſchrieben
werden koͤnnen. Die Perſonen ſind fuͤr die
Handlungen da — fuͤr die artigen Erfolge,
Wirkungen, Gegenwirkungen, ein Kreiß her-
umgezogen, der ſich um eine Hauptidee dreht —
und es iſt eine Komoͤdie. Ja warlich, denn
was ſoll ſonſt Komoͤdie in der Welt ſeyn? Fra-
gen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |