Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



hen, daß einer willkührlich zusammengesetz-
ten Fabel, die nur in den Wünschen des
Dichters (oft in seiner Gebährerinangst und
Autorsucht) nicht in den Charakteren den
Grund hat, das Reizende und Anziehende
fehle, das uns auch nach befriedigter Neu-
gierde beym zweyten Anblick unterhalten
und nähren kann, er sucht also dieses wie
eine geschickte Kokette durch äussern Putz zu
erhalten. Die Diktion, die Symmetrie und
Harmonie des Verses, der Reim selbst, für
den er fast zum Märtyrer wird. Pradon
und Racine hatten eine Phädra geschrieben.
La conduite de ces deux ouvrages, sagt er,
est a peu pres la meme. Il y - a plus. Les
personnages des deux pieces se trouvant dans
les memes situations, disent presque les me-
mes choses; mais c'est la qu'on distingue le
grand homme et le mauvais poete, c'est lors-
que Racine et Pradon pensent de meme, qu'ils
sont les plus differens.
Merken Sie wohl,
Racine et Pradon. Hier steht also nur Racine
auf der Bühne und dort nur Pradon. Aber
haben wir denn die beyden Herren hervor-
gerufen? Sie hätten immer warten können,
bis das Stück zu Ende war.

Zugegeben, daß bey einer mäßigen Por-
tion allgemeiner Kenntniß des menschlichen
Herzens diese Zunft auch Leidenschaften, et-
was mehr als Neugier zu erregen wüste, da

doch



hen, daß einer willkuͤhrlich zuſammengeſetz-
ten Fabel, die nur in den Wuͤnſchen des
Dichters (oft in ſeiner Gebaͤhrerinangſt und
Autorſucht) nicht in den Charakteren den
Grund hat, das Reizende und Anziehende
fehle, das uns auch nach befriedigter Neu-
gierde beym zweyten Anblick unterhalten
und naͤhren kann, er ſucht alſo dieſes wie
eine geſchickte Kokette durch aͤuſſern Putz zu
erhalten. Die Diktion, die Symmetrie und
Harmonie des Verſes, der Reim ſelbſt, fuͤr
den er faſt zum Maͤrtyrer wird. Pradon
und Racine hatten eine Phaͤdra geſchrieben.
La conduite de ces deux ouvrages, ſagt er,
eſt a peu près la même. Il y - a pluſ. Les
perſonnages des deux pieces ſe trouvant dans
les mêmes ſituations, diſent preſque les mê-
mes choſes; mais c’eſt là qu’on diſtingue le
grand homme et le mauvais poëte, c’eſt lors-
que Racine et Pradon penſent de même, qu’ils
ſont les plus differens.
Merken Sie wohl,
Racine et Pradon. Hier ſteht alſo nur Racine
auf der Buͤhne und dort nur Pradon. Aber
haben wir denn die beyden Herren hervor-
gerufen? Sie haͤtten immer warten koͤnnen,
bis das Stuͤck zu Ende war.

Zugegeben, daß bey einer maͤßigen Por-
tion allgemeiner Kenntniß des menſchlichen
Herzens dieſe Zunft auch Leidenſchaften, et-
was mehr als Neugier zu erregen wuͤſte, da

doch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0048" n="42"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
hen, daß einer willku&#x0364;hrlich zu&#x017F;ammenge&#x017F;etz-<lb/>
ten Fabel, die nur in den Wu&#x0364;n&#x017F;chen des<lb/>
Dichters (oft in &#x017F;einer Geba&#x0364;hrerinang&#x017F;t und<lb/>
Autor&#x017F;ucht) nicht in den Charakteren den<lb/>
Grund hat, das Reizende und Anziehende<lb/>
fehle, das uns auch nach befriedigter Neu-<lb/>
gierde beym zweyten Anblick unterhalten<lb/>
und na&#x0364;hren kann, er &#x017F;ucht al&#x017F;o die&#x017F;es wie<lb/>
eine ge&#x017F;chickte Kokette durch a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern Putz zu<lb/>
erhalten. Die Diktion, die Symmetrie und<lb/>
Harmonie des Ver&#x017F;es, der Reim &#x017F;elb&#x017F;t, fu&#x0364;r<lb/>
den er fa&#x017F;t zum Ma&#x0364;rtyrer wird. Pradon<lb/>
und Racine hatten eine Pha&#x0364;dra ge&#x017F;chrieben.<lb/><hi rendition="#aq">La conduite de ces deux ouvrages,</hi> &#x017F;agt er,<lb/><hi rendition="#aq">e&#x017F;t a peu près la même. Il y - a plu&#x017F;. Les<lb/>
per&#x017F;onnages des deux pieces &#x017F;e trouvant dans<lb/>
les mêmes &#x017F;ituations, di&#x017F;ent pre&#x017F;que les mê-<lb/>
mes cho&#x017F;es; mais c&#x2019;e&#x017F;t là qu&#x2019;on di&#x017F;tingue le<lb/>
grand homme et le mauvais poëte, c&#x2019;e&#x017F;t lors-<lb/>
que Racine et Pradon pen&#x017F;ent de même, qu&#x2019;ils<lb/>
&#x017F;ont les plus differens.</hi> Merken Sie wohl,<lb/><hi rendition="#aq">Racine et Pradon.</hi> Hier &#x017F;teht al&#x017F;o nur <hi rendition="#aq">Racine</hi><lb/>
auf der Bu&#x0364;hne und dort nur <hi rendition="#aq">Pradon.</hi> Aber<lb/>
haben wir denn die beyden Herren hervor-<lb/>
gerufen? Sie ha&#x0364;tten immer warten ko&#x0364;nnen,<lb/>
bis das Stu&#x0364;ck zu Ende war.</p><lb/>
        <p>Zugegeben, daß bey einer ma&#x0364;ßigen Por-<lb/>
tion allgemeiner Kenntniß des men&#x017F;chlichen<lb/>
Herzens die&#x017F;e Zunft auch Leiden&#x017F;chaften, et-<lb/>
was mehr als Neugier zu erregen wu&#x0364;&#x017F;te, da<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">doch</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0048] hen, daß einer willkuͤhrlich zuſammengeſetz- ten Fabel, die nur in den Wuͤnſchen des Dichters (oft in ſeiner Gebaͤhrerinangſt und Autorſucht) nicht in den Charakteren den Grund hat, das Reizende und Anziehende fehle, das uns auch nach befriedigter Neu- gierde beym zweyten Anblick unterhalten und naͤhren kann, er ſucht alſo dieſes wie eine geſchickte Kokette durch aͤuſſern Putz zu erhalten. Die Diktion, die Symmetrie und Harmonie des Verſes, der Reim ſelbſt, fuͤr den er faſt zum Maͤrtyrer wird. Pradon und Racine hatten eine Phaͤdra geſchrieben. La conduite de ces deux ouvrages, ſagt er, eſt a peu près la même. Il y - a pluſ. Les perſonnages des deux pieces ſe trouvant dans les mêmes ſituations, diſent preſque les mê- mes choſes; mais c’eſt là qu’on diſtingue le grand homme et le mauvais poëte, c’eſt lors- que Racine et Pradon penſent de même, qu’ils ſont les plus differens. Merken Sie wohl, Racine et Pradon. Hier ſteht alſo nur Racine auf der Buͤhne und dort nur Pradon. Aber haben wir denn die beyden Herren hervor- gerufen? Sie haͤtten immer warten koͤnnen, bis das Stuͤck zu Ende war. Zugegeben, daß bey einer maͤßigen Por- tion allgemeiner Kenntniß des menſchlichen Herzens dieſe Zunft auch Leidenſchaften, et- was mehr als Neugier zu erregen wuͤſte, da doch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/48
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/48>, abgerufen am 24.11.2024.