Aehnlichkeit mit der Natur (und noch weni- ger) als bey den Charaktermasken auf ei- nem Ball.
Jhr ganzer Vorzug bliebe also der Bau der Fabel, die willkührliche Zusammensetzung der Begebenheiten, zu welcher Schilderey der Dichter seine eigene Gemüthsverfassung als den Grund unterlegt. Sein ganzes Schauspiel (ich rede hier von Meisterstücken) wird also nicht ein Gemählde der Natur, sondern seiner eigenen Seele. Und da haben wir oft nicht die beste Aussicht zu hoffen. Jst etwas Saft in ihm, so finden wir doch bey jeder Marionettenpuppe, die er her- hüpfen und mit dem Kopf nicken läßt, sei- nen Witz, seine Anspielungen, seine Leiden- schaften und seinen Blick. Nur in einen willkührlichen Tanz komponirt, den sie alle eins nach dem andern abtanzen und hernach sich gehorsamst empfehlen. Welcher Tanz wie die Contretänze so oft wieder von neuem verwirrt, verschlungen, verzettelt wird, daß zuletzt Tänzer und Zuschauer die Geduld ver- lieren. Oder ist der Kopf des Dichters schon ausgetrocknet, so stoppelt er Schulbrocken aus dem Lukan und Seneka zusammen, oder leiht vom Euripides und Plautus, die we- nigstens gelehrtes Verdienst haben, und bringt das in schöne fliessende Verse, suavi sermone. Oder fehlt es ihm an allem, so
nimmt
Aehnlichkeit mit der Natur (und noch weni- ger) als bey den Charaktermasken auf ei- nem Ball.
Jhr ganzer Vorzug bliebe alſo der Bau der Fabel, die willkuͤhrliche Zuſammenſetzung der Begebenheiten, zu welcher Schilderey der Dichter ſeine eigene Gemuͤthsverfaſſung als den Grund unterlegt. Sein ganzes Schauſpiel (ich rede hier von Meiſterſtuͤcken) wird alſo nicht ein Gemaͤhlde der Natur, ſondern ſeiner eigenen Seele. Und da haben wir oft nicht die beſte Ausſicht zu hoffen. Jſt etwas Saft in ihm, ſo finden wir doch bey jeder Marionettenpuppe, die er her- huͤpfen und mit dem Kopf nicken laͤßt, ſei- nen Witz, ſeine Anſpielungen, ſeine Leiden- ſchaften und ſeinen Blick. Nur in einen willkuͤhrlichen Tanz komponirt, den ſie alle eins nach dem andern abtanzen und hernach ſich gehorſamſt empfehlen. Welcher Tanz wie die Contretaͤnze ſo oft wieder von neuem verwirrt, verſchlungen, verzettelt wird, daß zuletzt Taͤnzer und Zuſchauer die Geduld ver- lieren. Oder iſt der Kopf des Dichters ſchon ausgetrocknet, ſo ſtoppelt er Schulbrocken aus dem Lukan und Seneka zuſammen, oder leiht vom Euripides und Plautus, die we- nigſtens gelehrtes Verdienſt haben, und bringt das in ſchoͤne flieſſende Verſe, ſuavi ſermone. Oder fehlt es ihm an allem, ſo
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Aehnlichkeit mit der Natur (und noch weni-
ger) als bey den Charaktermasken auf ei-
nem Ball.
Jhr ganzer Vorzug bliebe alſo der Bau
der Fabel, die willkuͤhrliche Zuſammenſetzung
der Begebenheiten, zu welcher Schilderey
der Dichter ſeine eigene Gemuͤthsverfaſſung
als den Grund unterlegt. Sein ganzes
Schauſpiel (ich rede hier von Meiſterſtuͤcken)
wird alſo nicht ein Gemaͤhlde der Natur,
ſondern ſeiner eigenen Seele. Und da haben
wir oft nicht die beſte Ausſicht zu hoffen.
Jſt etwas Saft in ihm, ſo finden wir doch
bey jeder Marionettenpuppe, die er her-
huͤpfen und mit dem Kopf nicken laͤßt, ſei-
nen Witz, ſeine Anſpielungen, ſeine Leiden-
ſchaften und ſeinen Blick. Nur in einen
willkuͤhrlichen Tanz komponirt, den ſie alle
eins nach dem andern abtanzen und hernach
ſich gehorſamſt empfehlen. Welcher Tanz
wie die Contretaͤnze ſo oft wieder von neuem
verwirrt, verſchlungen, verzettelt wird, daß
zuletzt Taͤnzer und Zuſchauer die Geduld ver-
lieren. Oder iſt der Kopf des Dichters ſchon
ausgetrocknet, ſo ſtoppelt er Schulbrocken
aus dem Lukan und Seneka zuſammen, oder
leiht vom Euripides und Plautus, die we-
nigſtens gelehrtes Verdienſt haben, und
bringt das in ſchoͤne flieſſende Verſe, ſuavi
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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/46>, abgerufen am 03.07.2024.
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