Man braucht nicht lange zu beweisen, daß die französischen Schauspiele den Re- geln des Aristoteles entsprechen, sie haben sie bis zu einem Punkt hinausgetrieben, der jedem Mann von gesunder Empfindung Her- zensangst verursacht. Es giebt nirgend in der Welt so grübelnde Beobachter der drey Einheiten: der willkührliche Knoten der Handlung ist von den französischen Garn- webern zu einer solchen Vollkommenheit be- arbeitet worden, daß man ihren Witz in der That bewundern muß, als welcher die simpelsten und natürlichsten Begebenheiten auf so seltsame Arten zu verwirren weiß, daß noch nie eine gute Komödie ausser Lan- des ist geschrieben worden, die nicht von funfzigen ihrer besten Köpfe immer wieder in veränderter Gestalt wäre vorgezeigt wor- den. Sie setzen, wie Aristoteles, den gan- zen Unterscheid des Schauspiels darinn, daß es vier und zwanzig Stunden währt und suavi sermone, siehe seine Definition. Das Erzählen im Trauerspiel und in der Epopee ist ihnen gleichgültig und sie machen mit dem Aristoteles die Charaktere nicht nur zur Nebensache, sondern wollen sie auch, wie Madame Dacier gar schön auseinanderge- setzt hat, gar nicht einmal im Trauerspiele leiden. Ein Unglück, daß die gute Frau
bey
Man braucht nicht lange zu beweiſen, daß die franzoͤſiſchen Schauſpiele den Re- geln des Ariſtoteles entſprechen, ſie haben ſie bis zu einem Punkt hinausgetrieben, der jedem Mann von geſunder Empfindung Her- zensangſt verurſacht. Es giebt nirgend in der Welt ſo gruͤbelnde Beobachter der drey Einheiten: der willkuͤhrliche Knoten der Handlung iſt von den franzoͤſiſchen Garn- webern zu einer ſolchen Vollkommenheit be- arbeitet worden, daß man ihren Witz in der That bewundern muß, als welcher die ſimpelſten und natuͤrlichſten Begebenheiten auf ſo ſeltſame Arten zu verwirren weiß, daß noch nie eine gute Komoͤdie auſſer Lan- des iſt geſchrieben worden, die nicht von funfzigen ihrer beſten Koͤpfe immer wieder in veraͤnderter Geſtalt waͤre vorgezeigt wor- den. Sie ſetzen, wie Ariſtoteles, den gan- zen Unterſcheid des Schauſpiels darinn, daß es vier und zwanzig Stunden waͤhrt und ſuavi ſermone, ſiehe ſeine Definition. Das Erzaͤhlen im Trauerſpiel und in der Epopee iſt ihnen gleichguͤltig und ſie machen mit dem Ariſtoteles die Charaktere nicht nur zur Nebenſache, ſondern wollen ſie auch, wie Madame Dacier gar ſchoͤn auseinanderge- ſetzt hat, gar nicht einmal im Trauerſpiele leiden. Ein Ungluͤck, daß die gute Frau
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Man braucht nicht lange zu beweiſen,
daß die franzoͤſiſchen Schauſpiele den Re-
geln des Ariſtoteles entſprechen, ſie haben
ſie bis zu einem Punkt hinausgetrieben, der
jedem Mann von geſunder Empfindung Her-
zensangſt verurſacht. Es giebt nirgend in
der Welt ſo gruͤbelnde Beobachter der drey
Einheiten: der willkuͤhrliche Knoten der
Handlung iſt von den franzoͤſiſchen Garn-
webern zu einer ſolchen Vollkommenheit be-
arbeitet worden, daß man ihren Witz in
der That bewundern muß, als welcher die
ſimpelſten und natuͤrlichſten Begebenheiten
auf ſo ſeltſame Arten zu verwirren weiß,
daß noch nie eine gute Komoͤdie auſſer Lan-
des iſt geſchrieben worden, die nicht von
funfzigen ihrer beſten Koͤpfe immer wieder
in veraͤnderter Geſtalt waͤre vorgezeigt wor-
den. Sie ſetzen, wie Ariſtoteles, den gan-
zen Unterſcheid des Schauſpiels darinn, daß
es vier und zwanzig Stunden waͤhrt und
ſuavi ſermone, ſiehe ſeine Definition. Das
Erzaͤhlen im Trauerſpiel und in der Epopee
iſt ihnen gleichguͤltig und ſie machen mit
dem Ariſtoteles die Charaktere nicht nur zur
Nebenſache, ſondern wollen ſie auch, wie
Madame Dacier gar ſchoͤn auseinanderge-
ſetzt hat, gar nicht einmal im Trauerſpiele
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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/42>, abgerufen am 03.07.2024.
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