Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



len Wissenschaften, ohne Unterschied, in ge-
wissem Grade gemein seyn sollte. Die Poe-
sie scheint sich dadurch von allen Künsten und
Wissenschaften zu unterscheiden, daß sie
diese beyden Quellen vereinigt, alles scharf
durchdacht, durchforscht, durchschaut --
und dann in getreuer Nachahmung zum
andernmal wieder hervorgebracht. Dieses
giebt die Poesie der Sachen, jene des
Styls. Oder umgekehrt, wie ihr wollt.
Der schöne Geist kann das Ding ganz ken-
nen, aber er kann es nicht wieder so ge-
treu von sich geben, alle Striche seines
Witzes könnens nicht. Darum bleibt er
immer nur schöner Geist, und in den Mar-
morhänden Longin, Home (wer will, schrei-
be seinen Namen hin) wird seine Schaale
nie zum Dichter hinunter sinken. Doch
dies sind so Gedanken neben dem Todten-
kopf auf der Toilette des Denkers -- laßt
uns zu unserm Theater umkehren!

Und die Natur des Schauspiels zu ent-
wickeln suchen, aus dieser Untersuchung ei-
nige Corollarien ableiten, mit guten Grün-
den verschanzen, und im dritten Abschnitt
wider die Angriffe unsrer Gegner, das heißt,
des ganzen feinern Publikums vertheidigen,
ob wir sie vielleicht dahin vermöchten, die
Belagerung in eine Bloquade zu verwan-
deln, weil alsdenn --

Daß



len Wiſſenſchaften, ohne Unterſchied, in ge-
wiſſem Grade gemein ſeyn ſollte. Die Poe-
ſie ſcheint ſich dadurch von allen Kuͤnſten und
Wiſſenſchaften zu unterſcheiden, daß ſie
dieſe beyden Quellen vereinigt, alles ſcharf
durchdacht, durchforſcht, durchſchaut
und dann in getreuer Nachahmung zum
andernmal wieder hervorgebracht. Dieſes
giebt die Poeſie der Sachen, jene des
Styls. Oder umgekehrt, wie ihr wollt.
Der ſchoͤne Geiſt kann das Ding ganz ken-
nen, aber er kann es nicht wieder ſo ge-
treu von ſich geben, alle Striche ſeines
Witzes koͤnnens nicht. Darum bleibt er
immer nur ſchoͤner Geiſt, und in den Mar-
morhaͤnden Longin, Home (wer will, ſchrei-
be ſeinen Namen hin) wird ſeine Schaale
nie zum Dichter hinunter ſinken. Doch
dies ſind ſo Gedanken neben dem Todten-
kopf auf der Toilette des Denkers — laßt
uns zu unſerm Theater umkehren!

Und die Natur des Schauſpiels zu ent-
wickeln ſuchen, aus dieſer Unterſuchung ei-
nige Corollarien ableiten, mit guten Gruͤn-
den verſchanzen, und im dritten Abſchnitt
wider die Angriffe unſrer Gegner, das heißt,
des ganzen feinern Publikums vertheidigen,
ob wir ſie vielleicht dahin vermoͤchten, die
Belagerung in eine Bloquade zu verwan-
deln, weil alsdenn —

Daß
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0024" n="18"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
len Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, ohne Unter&#x017F;chied, in ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;em Grade gemein &#x017F;eyn &#x017F;ollte. Die Poe-<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;cheint &#x017F;ich dadurch von allen Ku&#x0364;n&#x017F;ten und<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften zu unter&#x017F;cheiden, daß &#x017F;ie<lb/>
die&#x017F;e beyden Quellen vereinigt, alles &#x017F;charf<lb/>
durchdacht, durchfor&#x017F;cht, <hi rendition="#g">durch&#x017F;chaut</hi> &#x2014;<lb/>
und dann in <hi rendition="#g">getreuer</hi> Nachahmung zum<lb/>
andernmal wieder hervorgebracht. Die&#x017F;es<lb/>
giebt die Poe&#x017F;ie der Sachen, jene des<lb/>
Styls. Oder umgekehrt, wie ihr wollt.<lb/>
Der &#x017F;cho&#x0364;ne Gei&#x017F;t kann das Ding ganz ken-<lb/>
nen, aber er kann es nicht wieder &#x017F;o ge-<lb/>
treu von &#x017F;ich geben, alle Striche &#x017F;eines<lb/>
Witzes ko&#x0364;nnens nicht. Darum bleibt er<lb/>
immer nur &#x017F;cho&#x0364;ner Gei&#x017F;t, und in den Mar-<lb/>
morha&#x0364;nden Longin, Home (wer will, &#x017F;chrei-<lb/>
be &#x017F;einen Namen hin) wird &#x017F;eine Schaale<lb/>
nie zum Dichter hinunter &#x017F;inken. Doch<lb/>
dies &#x017F;ind &#x017F;o Gedanken neben dem Todten-<lb/>
kopf auf der Toilette des Denkers &#x2014; laßt<lb/>
uns zu un&#x017F;erm Theater umkehren!</p><lb/>
        <p>Und die Natur des Schau&#x017F;piels zu ent-<lb/>
wickeln &#x017F;uchen, aus die&#x017F;er Unter&#x017F;uchung ei-<lb/>
nige Corollarien ableiten, mit guten Gru&#x0364;n-<lb/>
den ver&#x017F;chanzen, und im dritten Ab&#x017F;chnitt<lb/>
wider die Angriffe un&#x017F;rer Gegner, das heißt,<lb/>
des ganzen feinern Publikums vertheidigen,<lb/>
ob wir &#x017F;ie vielleicht dahin vermo&#x0364;chten, die<lb/>
Belagerung in eine Bloquade zu verwan-<lb/>
deln, weil alsdenn &#x2014;</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Daß</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0024] len Wiſſenſchaften, ohne Unterſchied, in ge- wiſſem Grade gemein ſeyn ſollte. Die Poe- ſie ſcheint ſich dadurch von allen Kuͤnſten und Wiſſenſchaften zu unterſcheiden, daß ſie dieſe beyden Quellen vereinigt, alles ſcharf durchdacht, durchforſcht, durchſchaut — und dann in getreuer Nachahmung zum andernmal wieder hervorgebracht. Dieſes giebt die Poeſie der Sachen, jene des Styls. Oder umgekehrt, wie ihr wollt. Der ſchoͤne Geiſt kann das Ding ganz ken- nen, aber er kann es nicht wieder ſo ge- treu von ſich geben, alle Striche ſeines Witzes koͤnnens nicht. Darum bleibt er immer nur ſchoͤner Geiſt, und in den Mar- morhaͤnden Longin, Home (wer will, ſchrei- be ſeinen Namen hin) wird ſeine Schaale nie zum Dichter hinunter ſinken. Doch dies ſind ſo Gedanken neben dem Todten- kopf auf der Toilette des Denkers — laßt uns zu unſerm Theater umkehren! Und die Natur des Schauſpiels zu ent- wickeln ſuchen, aus dieſer Unterſuchung ei- nige Corollarien ableiten, mit guten Gruͤn- den verſchanzen, und im dritten Abſchnitt wider die Angriffe unſrer Gegner, das heißt, des ganzen feinern Publikums vertheidigen, ob wir ſie vielleicht dahin vermoͤchten, die Belagerung in eine Bloquade zu verwan- deln, weil alsdenn — Daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/24
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/24>, abgerufen am 24.11.2024.