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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Der atlantische Ocean.
geschafft. Und so geschah es denn, dass London ein Stadtquartier
hat, an Umfang manche ganz ansehnliche Stadt übertreffend, in welchem
Nachts über fast nur einzelne Wächter sich aufhalten, Gassen entlang
die Häuser leer stehen und in den Häusern vom Fussboden bis hinauf
zur Mansarde Alles nur Comptoirs und sonstige Geschäftszimmer auf-
weist. Diese City ist ungefähr jener auf unserem Stadtplan mit West-
City und East-City bezeichnete Theil der Stadt, welcher am linken
Ufer der Themse vom Tower bis zum Temple sich erstreckt und
landeinwärts bis zu einer Linie reicht, welche ungefähr von Holborn
über Finsbury Circus bis Aldgate gezogen werden kann. Sie umfasst
über 6000 Häuser, von denen 4000 gar nicht bewohnt werden. Aber
die City bildet einen für sich geschlossenen administrativen Bezirk
mit besonderen Rechten. Sie ist das Gebiet des Lord-Mayors, der
jährlich neu gewählt wird und am Tage seines Amtsantrittes seinen
feierlichen Umzug daselbst unter Beobachtung des altherkömmlichen
Gepränges hält. Dieser Theil der Stadt ist zumeist enge, düster, jeg-
licher Raum bis auf das äusserste ausgenützt. Alles trägt das Gepräge
des Geschäftes. Man hat in der City keine Zeit zu verlieren, keine
Lust für irgend etwas, was abhält, stört, zerstreut. "Time is money",
lautet die Losung, und man sieht es den geschäftig eilenden Menschen
daselbst an, dass sie dieses Spruches jederzeit eingedenk sind. Die
City hält den Handel Englands in ihren Händen, und dort laufen die
Fäden zusammen, welche die ganze Welt umspinnen. Was in der City
nicht mehr Platz finden konnte, das suchte wenigstens in deren Nähe
und an den Ufern des Flusses unterzukommen, und so bergen beide
Ufer abwärts der City alles dasjenige, was zum Hafen gehört oder
eine unmittelbare Beziehung zu demselben hat, inbesondere also die
grossartigen Dockanlagen.

Im Westen, flussaufwärts, suchten die Einwohner dagegen
ihre neuen Wohnsitze auf, und fand man da Raum für alle Anlagen,
welche mehr dem Genusse des Lebens dienen. Insbesondere war es
das eigentliche Westend, jenseits des Temple, welches dadurch an
Bedeutung gewann, weil dort der Hof und die tonangebende Aristo-
kratie ihre Paläste bauten. Einstens lag das Westend an der Peri-
pherie der Stadt, heute ist es schon ringsum von immer mehr
um sich greifenden neuen Anlagen und Niederlassungen umsponnen,
immer aber noch der fashionable Theil der ganzen Riesenstadt.
Ueberblickt man die Ausdehnung dieser letzteren, so beträgt die
Distanz von Ost nach West 22 und jene von Süd nach Nord über
8 Kilometer.


Der atlantische Ocean.
geschafft. Und so geschah es denn, dass London ein Stadtquartier
hat, an Umfang manche ganz ansehnliche Stadt übertreffend, in welchem
Nachts über fast nur einzelne Wächter sich aufhalten, Gassen entlang
die Häuser leer stehen und in den Häusern vom Fussboden bis hinauf
zur Mansarde Alles nur Comptoirs und sonstige Geschäftszimmer auf-
weist. Diese City ist ungefähr jener auf unserem Stadtplan mit West-
City und East-City bezeichnete Theil der Stadt, welcher am linken
Ufer der Themse vom Tower bis zum Temple sich erstreckt und
landeinwärts bis zu einer Linie reicht, welche ungefähr von Holborn
über Finsbury Circus bis Aldgate gezogen werden kann. Sie umfasst
über 6000 Häuser, von denen 4000 gar nicht bewohnt werden. Aber
die City bildet einen für sich geschlossenen administrativen Bezirk
mit besonderen Rechten. Sie ist das Gebiet des Lord-Mayors, der
jährlich neu gewählt wird und am Tage seines Amtsantrittes seinen
feierlichen Umzug daselbst unter Beobachtung des altherkömmlichen
Gepränges hält. Dieser Theil der Stadt ist zumeist enge, düster, jeg-
licher Raum bis auf das äusserste ausgenützt. Alles trägt das Gepräge
des Geschäftes. Man hat in der City keine Zeit zu verlieren, keine
Lust für irgend etwas, was abhält, stört, zerstreut. „Time is money“,
lautet die Losung, und man sieht es den geschäftig eilenden Menschen
daselbst an, dass sie dieses Spruches jederzeit eingedenk sind. Die
City hält den Handel Englands in ihren Händen, und dort laufen die
Fäden zusammen, welche die ganze Welt umspinnen. Was in der City
nicht mehr Platz finden konnte, das suchte wenigstens in deren Nähe
und an den Ufern des Flusses unterzukommen, und so bergen beide
Ufer abwärts der City alles dasjenige, was zum Hafen gehört oder
eine unmittelbare Beziehung zu demselben hat, inbesondere also die
grossartigen Dockanlagen.

Im Westen, flussaufwärts, suchten die Einwohner dagegen
ihre neuen Wohnsitze auf, und fand man da Raum für alle Anlagen,
welche mehr dem Genusse des Lebens dienen. Insbesondere war es
das eigentliche Westend, jenseits des Temple, welches dadurch an
Bedeutung gewann, weil dort der Hof und die tonangebende Aristo-
kratie ihre Paläste bauten. Einstens lag das Westend an der Peri-
pherie der Stadt, heute ist es schon ringsum von immer mehr
um sich greifenden neuen Anlagen und Niederlassungen umsponnen,
immer aber noch der fashionable Theil der ganzen Riesenstadt.
Ueberblickt man die Ausdehnung dieser letzteren, so beträgt die
Distanz von Ost nach West 22 und jene von Süd nach Nord über
8 Kilometer.


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[924/0944] Der atlantische Ocean. geschafft. Und so geschah es denn, dass London ein Stadtquartier hat, an Umfang manche ganz ansehnliche Stadt übertreffend, in welchem Nachts über fast nur einzelne Wächter sich aufhalten, Gassen entlang die Häuser leer stehen und in den Häusern vom Fussboden bis hinauf zur Mansarde Alles nur Comptoirs und sonstige Geschäftszimmer auf- weist. Diese City ist ungefähr jener auf unserem Stadtplan mit West- City und East-City bezeichnete Theil der Stadt, welcher am linken Ufer der Themse vom Tower bis zum Temple sich erstreckt und landeinwärts bis zu einer Linie reicht, welche ungefähr von Holborn über Finsbury Circus bis Aldgate gezogen werden kann. Sie umfasst über 6000 Häuser, von denen 4000 gar nicht bewohnt werden. Aber die City bildet einen für sich geschlossenen administrativen Bezirk mit besonderen Rechten. Sie ist das Gebiet des Lord-Mayors, der jährlich neu gewählt wird und am Tage seines Amtsantrittes seinen feierlichen Umzug daselbst unter Beobachtung des altherkömmlichen Gepränges hält. Dieser Theil der Stadt ist zumeist enge, düster, jeg- licher Raum bis auf das äusserste ausgenützt. Alles trägt das Gepräge des Geschäftes. Man hat in der City keine Zeit zu verlieren, keine Lust für irgend etwas, was abhält, stört, zerstreut. „Time is money“, lautet die Losung, und man sieht es den geschäftig eilenden Menschen daselbst an, dass sie dieses Spruches jederzeit eingedenk sind. Die City hält den Handel Englands in ihren Händen, und dort laufen die Fäden zusammen, welche die ganze Welt umspinnen. Was in der City nicht mehr Platz finden konnte, das suchte wenigstens in deren Nähe und an den Ufern des Flusses unterzukommen, und so bergen beide Ufer abwärts der City alles dasjenige, was zum Hafen gehört oder eine unmittelbare Beziehung zu demselben hat, inbesondere also die grossartigen Dockanlagen. Im Westen, flussaufwärts, suchten die Einwohner dagegen ihre neuen Wohnsitze auf, und fand man da Raum für alle Anlagen, welche mehr dem Genusse des Lebens dienen. Insbesondere war es das eigentliche Westend, jenseits des Temple, welches dadurch an Bedeutung gewann, weil dort der Hof und die tonangebende Aristo- kratie ihre Paläste bauten. Einstens lag das Westend an der Peri- pherie der Stadt, heute ist es schon ringsum von immer mehr um sich greifenden neuen Anlagen und Niederlassungen umsponnen, immer aber noch der fashionable Theil der ganzen Riesenstadt. Ueberblickt man die Ausdehnung dieser letzteren, so beträgt die Distanz von Ost nach West 22 und jene von Süd nach Nord über 8 Kilometer.

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 924. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/944>, abgerufen am 23.05.2024.