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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Der atlantische Ocean.
steten Förderer seines Handels. Zu Amerika gesellte sich auch der grosse Besitz,
welchen die Indische Compagnie am Ganges erwarb. Der kluge Sinn der eng-
lischen Geschäftsleute verstand es vortrefflich, alle Beziehungen zu den fernen
Niederlassungen in England selbst und dort wieder in erster Linie in London
zu vereinigen und der eigenen Heimat die Vortheile voll und ganz zu sichern,
welche in diesen Verhältnissen gelegen waren. Mit Eifersucht wachte man darüber,
dass das Mutterland nicht übergangen werden konnte, und dass die Schätze,
welche auswärts gewonnen wurden, dorthin ihren Weg nahmen. Da die Colonien
wesentlich Rohproducte lieferten, so war man in London namentlich bemüht,
einerseits die Consumenten der übrigen Welt zu zwingen, sich ihren bezüglichen
Bedarf auf dem britischen Markt zu holen, andererseits aber die Fabricate, zu
welchen jene Rohproducte dienten, in England selbst herzustellen, damit dann
die Colonien ihren Bedarf wieder von dort beziehen mussten.

Das XVIII. Jahrhundert ward für London von grosser Wichtigkeit. Es
erweiterte fort und fort dessen commerzielle und maritime Stellung, ermöglichte
dadurch die Ansammlung von mächtigen Capitalien und gestattete andererseits
auch die Besserung der städtischen Verhältnisse, in denen noch viele, ja fast
die meisten Uebelstände der vergangenen Zeiten sich empfindlich geltend machten.
Freilich auch anderwärts sah es nicht besser aus. Das London des vorigen Jahr-
hunderts war immer noch eine enge, düstere, unebene, schmutzige Stadt, in
welcher neben den prächtigen Palästen des Adels elende Häuser in Fülle zu
schauen waren, Holz vielfach als Baumaterial verwendet war und Reinlichkeit
und Bequemlichkeit zu den Seltenheiten gehörten. Allmälig brach sich freilich
die Erkenntniss von der Nothwendigkeit gründlicher Reformen Bahn, aber die
Durchführung war damals weit schwieriger als die Erkenntniss, und so ging die
Verschönerung Londons nur langsam vor sich. Immerhin aber war namentlich die
zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts in dieser Beziehung schon bemerkenswerth.

Die den Colonien gegenüber befolgte sehr rücksichtslose Politik führte zum
Abfalle Nordamerikas und zur selbständigen Constituirung dieses Gebietes, ohne
dass jedoch England hiedurch einen empfindlichen Schaden erlitt, zunächst aus
dem Grunde, weil die neuen Freistaaten nicht in der Lage waren, sich wirth-
schaftlich auf eigene Füsse zu stellen und daher der Beziel ungen zum einstigen
Mutterlande nicht entrathen konnten. Andererseits fand England durch seine in
den anderen Continenten mit eiserner Consequenz betriebene coloniale Politik
reichlichen Ersatz, und eine Reihe genialer Erfindungen auf dem Gebiete der Ge-
werbe und Maschinen bereiteten seine Uebermacht auf dem Gebiete der Industrie
vor. Auch die Kämpfe der französischen Revolution und die erbitterte Gegner-
schaft zu Napoleon I. wirkten auf England, welches die Freiheit der Meere sich
zu behaupten wusste, nur soweit störend, als Europa in seiner Consumtionsfähig-
keit erschöpft ward. Als aber der Frieden wieder hergestellt war, da begann die
volle Glanzzeit Londons, welches im Laufe dieses Jahrhunderts eine Entwicklung
nahm, wie keine andere europäische Stadt und wie auch nur wenige amerikanische
Städte.

Um sich nun einen Begriff von der Entwicklung Londons zu
machen, sei bloss erwähnt, dass die Stadt, deren Bevölkerung im
Jahre 1800 auf 900.000 Einwohner veranschlagt wurde, im Jahre 1888
deren 4,282.000 zählte und sich allein in den letzten 50 Jahren

Der atlantische Ocean.
steten Förderer seines Handels. Zu Amerika gesellte sich auch der grosse Besitz,
welchen die Indische Compagnie am Ganges erwarb. Der kluge Sinn der eng-
lischen Geschäftsleute verstand es vortrefflich, alle Beziehungen zu den fernen
Niederlassungen in England selbst und dort wieder in erster Linie in London
zu vereinigen und der eigenen Heimat die Vortheile voll und ganz zu sichern,
welche in diesen Verhältnissen gelegen waren. Mit Eifersucht wachte man darüber,
dass das Mutterland nicht übergangen werden konnte, und dass die Schätze,
welche auswärts gewonnen wurden, dorthin ihren Weg nahmen. Da die Colonien
wesentlich Rohproducte lieferten, so war man in London namentlich bemüht,
einerseits die Consumenten der übrigen Welt zu zwingen, sich ihren bezüglichen
Bedarf auf dem britischen Markt zu holen, andererseits aber die Fabricate, zu
welchen jene Rohproducte dienten, in England selbst herzustellen, damit dann
die Colonien ihren Bedarf wieder von dort beziehen mussten.

Das XVIII. Jahrhundert ward für London von grosser Wichtigkeit. Es
erweiterte fort und fort dessen commerzielle und maritime Stellung, ermöglichte
dadurch die Ansammlung von mächtigen Capitalien und gestattete andererseits
auch die Besserung der städtischen Verhältnisse, in denen noch viele, ja fast
die meisten Uebelstände der vergangenen Zeiten sich empfindlich geltend machten.
Freilich auch anderwärts sah es nicht besser aus. Das London des vorigen Jahr-
hunderts war immer noch eine enge, düstere, unebene, schmutzige Stadt, in
welcher neben den prächtigen Palästen des Adels elende Häuser in Fülle zu
schauen waren, Holz vielfach als Baumaterial verwendet war und Reinlichkeit
und Bequemlichkeit zu den Seltenheiten gehörten. Allmälig brach sich freilich
die Erkenntniss von der Nothwendigkeit gründlicher Reformen Bahn, aber die
Durchführung war damals weit schwieriger als die Erkenntniss, und so ging die
Verschönerung Londons nur langsam vor sich. Immerhin aber war namentlich die
zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts in dieser Beziehung schon bemerkenswerth.

Die den Colonien gegenüber befolgte sehr rücksichtslose Politik führte zum
Abfalle Nordamerikas und zur selbständigen Constituirung dieses Gebietes, ohne
dass jedoch England hiedurch einen empfindlichen Schaden erlitt, zunächst aus
dem Grunde, weil die neuen Freistaaten nicht in der Lage waren, sich wirth-
schaftlich auf eigene Füsse zu stellen und daher der Beziel ungen zum einstigen
Mutterlande nicht entrathen konnten. Andererseits fand England durch seine in
den anderen Continenten mit eiserner Consequenz betriebene coloniale Politik
reichlichen Ersatz, und eine Reihe genialer Erfindungen auf dem Gebiete der Ge-
werbe und Maschinen bereiteten seine Uebermacht auf dem Gebiete der Industrie
vor. Auch die Kämpfe der französischen Revolution und die erbitterte Gegner-
schaft zu Napoleon I. wirkten auf England, welches die Freiheit der Meere sich
zu behaupten wusste, nur soweit störend, als Europa in seiner Consumtionsfähig-
keit erschöpft ward. Als aber der Frieden wieder hergestellt war, da begann die
volle Glanzzeit Londons, welches im Laufe dieses Jahrhunderts eine Entwicklung
nahm, wie keine andere europäische Stadt und wie auch nur wenige amerikanische
Städte.

Um sich nun einen Begriff von der Entwicklung Londons zu
machen, sei bloss erwähnt, dass die Stadt, deren Bevölkerung im
Jahre 1800 auf 900.000 Einwohner veranschlagt wurde, im Jahre 1888
deren 4,282.000 zählte und sich allein in den letzten 50 Jahren

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 922. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/942>, abgerufen am 18.05.2024.