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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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St. Petersburg.
dient die Eisfläche als die bequemste Verbindung zwischen den ein-
zelnen Stadttheilen. Ueber die Canäle führen meist Granit- und Eisen-
brücken.

St. Petersburg liegt unter dem 59° 56' 29·7" nördl. Br. und
30° 18' 22·2" östl. L. v. Gr. (Akademie der Wissenschaften) in
etwa 15 m Meereshöhe und ist trotz der Anlage herrlicher Parks
und breiter luftiger Strassen, trotz der ausserordentlichen Reinlich-
keit, auf welche die Behörden ihre volle Aufmerksamkeit richten, eine
ungesunde Sumpfstadt geblieben. Die Zahl der Sterbefälle übersteigt
alljährlich die Zahl der Geburten und wenn nicht eine fortdauernde
starke Zuwanderung stattfände, würde Petersburg bereits aufgehört
haben, eine Grossstadt zu sein. Da durch die Einwanderung der Stadt
meist Männer zugeführt werden, überwiegt die männliche Bevöl-
kerung über die weibliche in dem Verhältnisse von 4 : 3. Fast alle
Volksstämme des europäischen Russland sind in der jährlichen Ein-
wanderung vertreten, am zahlreichsten sind darunter Russen und
Deutsche.

Der Boden, auf dem St. Petersburg, die jüngste Hauptstadt Europas, sich
erhebt, ist uralter russischer Besitz. Ingermanland, früher Ingrien genannt, zwischen
dem Peipussee, der Narowa und dem Ladogasee war von der reichen Handelsstadt
Nowgorod, nach deren Unterwerfung durch Iwan IV. von den Moskowitern ab-
hängig und fiel dann an Schweden. Im Jahre 1702 wurde es von Peter dem
Grossen zurückerobert, aber erst im Frieden zu Nystadt 1721 definitiv mit Russ-
land vereinigt. Am 16. Mai 1703 legte Peter eigenhändig auf einer der vielen
Newa-Inseln, der sogenannten Haseninsel, den Grundstein zu einer neuen Festung,
welche zu Ehren der Apostel Petrus und Paulus den Namen Peter-Pauls-Festung
erhielt. Während dieses Baues fasste der geniale Czar den Plan, hier eine neue
Hauptstadt des Reiches zu erbauen, die Schutz gegen die Feinde im Norden
bieten und im Gegensatz zur bisherigen Hauptstadt Moskau Vermittlerin der
westeuropäischen Civilisation für Russland sein sollte. Diese Jugend der russi-
schen Hauptstadt erklärt es auch, dass sie, verglichen mit den meisten Capitalen
der anderen Staaten, keine Geschichte hat.

Dass der Boden, auf welchem die neue Stadt erstehen sollte, sumpfig und
mit Urwald bedeckt war, hinderte Peter an der Ausführung seines Planes nicht.
Mehr als 40.000 Menschen aus allen Theilen des Reiches waren in den folgenden
Jahren mit der Trockenlegung der Sümpfe, dem Ausroden der Wälder und dem
Aufbau der Häuser beschäftigt. Da die Arbeiter -- ausser Leibeigenen und Sträf-
lingen auch gefangene Schweden -- durch die Ausdünstungen der Sümpfe zahl-
reich erkrankten und hinstarben, mussten immer neue Arbeiter aus dem Innern
des Reiches herangezogen werden. Jeder Fussbreit festen Landes wurde geradezu
mit einem Menschenleben erkauft.

Um alle vorhandenen Maurer für den Aufbau der neuen Hauptstadt zur
Verfügung zu haben, wurde der Bau steinerner Gebäude für das ganze Reich mit
Ausnahme der neuen Stadt verboten. Alle zwei Jahre fand eine Aushebung von
Arbeitern wie zum Kriegsdienste statt, die mit Werkzeugen versehen an die Newa

St. Petersburg.
dient die Eisfläche als die bequemste Verbindung zwischen den ein-
zelnen Stadttheilen. Ueber die Canäle führen meist Granit- und Eisen-
brücken.

St. Petersburg liegt unter dem 59° 56′ 29·7″ nördl. Br. und
30° 18′ 22·2″ östl. L. v. Gr. (Akademie der Wissenschaften) in
etwa 15 m Meereshöhe und ist trotz der Anlage herrlicher Parks
und breiter luftiger Strassen, trotz der ausserordentlichen Reinlich-
keit, auf welche die Behörden ihre volle Aufmerksamkeit richten, eine
ungesunde Sumpfstadt geblieben. Die Zahl der Sterbefälle übersteigt
alljährlich die Zahl der Geburten und wenn nicht eine fortdauernde
starke Zuwanderung stattfände, würde Petersburg bereits aufgehört
haben, eine Grossstadt zu sein. Da durch die Einwanderung der Stadt
meist Männer zugeführt werden, überwiegt die männliche Bevöl-
kerung über die weibliche in dem Verhältnisse von 4 : 3. Fast alle
Volksstämme des europäischen Russland sind in der jährlichen Ein-
wanderung vertreten, am zahlreichsten sind darunter Russen und
Deutsche.

Der Boden, auf dem St. Petersburg, die jüngste Hauptstadt Europas, sich
erhebt, ist uralter russischer Besitz. Ingermanland, früher Ingrien genannt, zwischen
dem Peipussee, der Narowa und dem Ladogasee war von der reichen Handelsstadt
Nowgorod, nach deren Unterwerfung durch Iwan IV. von den Moskowitern ab-
hängig und fiel dann an Schweden. Im Jahre 1702 wurde es von Peter dem
Grossen zurückerobert, aber erst im Frieden zu Nystadt 1721 definitiv mit Russ-
land vereinigt. Am 16. Mai 1703 legte Peter eigenhändig auf einer der vielen
Newa-Inseln, der sogenannten Haseninsel, den Grundstein zu einer neuen Festung,
welche zu Ehren der Apostel Petrus und Paulus den Namen Peter-Pauls-Festung
erhielt. Während dieses Baues fasste der geniale Czar den Plan, hier eine neue
Hauptstadt des Reiches zu erbauen, die Schutz gegen die Feinde im Norden
bieten und im Gegensatz zur bisherigen Hauptstadt Moskau Vermittlerin der
westeuropäischen Civilisation für Russland sein sollte. Diese Jugend der russi-
schen Hauptstadt erklärt es auch, dass sie, verglichen mit den meisten Capitalen
der anderen Staaten, keine Geschichte hat.

Dass der Boden, auf welchem die neue Stadt erstehen sollte, sumpfig und
mit Urwald bedeckt war, hinderte Peter an der Ausführung seines Planes nicht.
Mehr als 40.000 Menschen aus allen Theilen des Reiches waren in den folgenden
Jahren mit der Trockenlegung der Sümpfe, dem Ausroden der Wälder und dem
Aufbau der Häuser beschäftigt. Da die Arbeiter — ausser Leibeigenen und Sträf-
lingen auch gefangene Schweden — durch die Ausdünstungen der Sümpfe zahl-
reich erkrankten und hinstarben, mussten immer neue Arbeiter aus dem Innern
des Reiches herangezogen werden. Jeder Fussbreit festen Landes wurde geradezu
mit einem Menschenleben erkauft.

Um alle vorhandenen Maurer für den Aufbau der neuen Hauptstadt zur
Verfügung zu haben, wurde der Bau steinerner Gebäude für das ganze Reich mit
Ausnahme der neuen Stadt verboten. Alle zwei Jahre fand eine Aushebung von
Arbeitern wie zum Kriegsdienste statt, die mit Werkzeugen versehen an die Newa

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[863/0883] St. Petersburg. dient die Eisfläche als die bequemste Verbindung zwischen den ein- zelnen Stadttheilen. Ueber die Canäle führen meist Granit- und Eisen- brücken. St. Petersburg liegt unter dem 59° 56′ 29·7″ nördl. Br. und 30° 18′ 22·2″ östl. L. v. Gr. (Akademie der Wissenschaften) in etwa 15 m Meereshöhe und ist trotz der Anlage herrlicher Parks und breiter luftiger Strassen, trotz der ausserordentlichen Reinlich- keit, auf welche die Behörden ihre volle Aufmerksamkeit richten, eine ungesunde Sumpfstadt geblieben. Die Zahl der Sterbefälle übersteigt alljährlich die Zahl der Geburten und wenn nicht eine fortdauernde starke Zuwanderung stattfände, würde Petersburg bereits aufgehört haben, eine Grossstadt zu sein. Da durch die Einwanderung der Stadt meist Männer zugeführt werden, überwiegt die männliche Bevöl- kerung über die weibliche in dem Verhältnisse von 4 : 3. Fast alle Volksstämme des europäischen Russland sind in der jährlichen Ein- wanderung vertreten, am zahlreichsten sind darunter Russen und Deutsche. Der Boden, auf dem St. Petersburg, die jüngste Hauptstadt Europas, sich erhebt, ist uralter russischer Besitz. Ingermanland, früher Ingrien genannt, zwischen dem Peipussee, der Narowa und dem Ladogasee war von der reichen Handelsstadt Nowgorod, nach deren Unterwerfung durch Iwan IV. von den Moskowitern ab- hängig und fiel dann an Schweden. Im Jahre 1702 wurde es von Peter dem Grossen zurückerobert, aber erst im Frieden zu Nystadt 1721 definitiv mit Russ- land vereinigt. Am 16. Mai 1703 legte Peter eigenhändig auf einer der vielen Newa-Inseln, der sogenannten Haseninsel, den Grundstein zu einer neuen Festung, welche zu Ehren der Apostel Petrus und Paulus den Namen Peter-Pauls-Festung erhielt. Während dieses Baues fasste der geniale Czar den Plan, hier eine neue Hauptstadt des Reiches zu erbauen, die Schutz gegen die Feinde im Norden bieten und im Gegensatz zur bisherigen Hauptstadt Moskau Vermittlerin der westeuropäischen Civilisation für Russland sein sollte. Diese Jugend der russi- schen Hauptstadt erklärt es auch, dass sie, verglichen mit den meisten Capitalen der anderen Staaten, keine Geschichte hat. Dass der Boden, auf welchem die neue Stadt erstehen sollte, sumpfig und mit Urwald bedeckt war, hinderte Peter an der Ausführung seines Planes nicht. Mehr als 40.000 Menschen aus allen Theilen des Reiches waren in den folgenden Jahren mit der Trockenlegung der Sümpfe, dem Ausroden der Wälder und dem Aufbau der Häuser beschäftigt. Da die Arbeiter — ausser Leibeigenen und Sträf- lingen auch gefangene Schweden — durch die Ausdünstungen der Sümpfe zahl- reich erkrankten und hinstarben, mussten immer neue Arbeiter aus dem Innern des Reiches herangezogen werden. Jeder Fussbreit festen Landes wurde geradezu mit einem Menschenleben erkauft. Um alle vorhandenen Maurer für den Aufbau der neuen Hauptstadt zur Verfügung zu haben, wurde der Bau steinerner Gebäude für das ganze Reich mit Ausnahme der neuen Stadt verboten. Alle zwei Jahre fand eine Aushebung von Arbeitern wie zum Kriegsdienste statt, die mit Werkzeugen versehen an die Newa

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 863. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/883>, abgerufen am 23.11.2024.