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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Der atlantische Ocean.
sich über der Landschaft wölbt, erinnert das Bild an Neapel. Aber
auch nur im Sommer. Denn in der rauheren Jahreszeit thürmen sich
die Eisschollen im Hafen übereinander, und ein winterlicher Schleier
bedeckt das im Sommer so reizende Bild. Im Sommer ist Reval auch
seiner herrlichen Lage wegen ein vielbesuchtes Seebad.

Reval, die Hauptstadt des Gouvernements Esthland, ist der Ein-
wohnerzahl nach -- 50.500 -- die zweite Stadt der Ostseepro-
vinzen. Der Kern ihrer Bevölkerung ist ebenso wie in Riga deutsch,
der Zahl nach überwiegen aber die Esthen. Die Stadt zerfällt von
Alters her in den oberen Theil, den sogenannten Dom, auf dem hohen
Saum der Felsenküste, dem Schlossberge liegend, in die eigentliche
oder Unterstadt an dem niedrigen sandigen Ufer des Hafens und in
die ausgedehnten an der Bucht sich hinziehenden Vorstädte.

Reval entstand als Stadt um eine 1219 von den Dänen, den Verbündeten
der Schwertbrüder, erbaute Festung herum, welche an Stelle der zerstörten Festung
der Esthen, Lindanissa, errichtet worden war. Die Stadt erhielt schon 1248 vom
dänischen König lübisches Recht und lübische Verfassung. Das Deutschthum er-
starkte immer mehr, und die dänische Bevölkerung wurde allmälig in die Festung,
den Dom, zurückgedrängt.

Auch in Reval theilte sich wie in Riga das Bürgerthum in zwei Gilden und
bestanden die Schwarzhäupter. Die Stadt musste mit Esthland gemeinsam wieder-
holt ihre Herrscher wechseln, bis sie nach vielen Stürmen endlich durch den
Nystädter Frieden 1721 an Russland gelangte. Obwohl unter diesem eine Zeit-
lang durch die Concurrenz St. Petersburgs in ihrer Entwicklung gehemmt, hat sie
doch in neuerer Zeit infolge der Eisenbahnverbindungen mit den beiden Haupt-
städten des Reiches und durch die Verbesserung des Hafens einen bedeutenden
Aufschwung genommen.

Der obere Theil der Stadt, der Dom, wird meist vom esthlän-
dischen Adel und den kaiserlichen Oberbehörden bewohnt. An den
Schlossberg selbst knüpfen sich manche esthnische Sagen. In diesem
Theile der Stadt befindet sich die Domkirche mit den Grabdenk-
mälern vieler berühmter Männer, das Schloss, jetzt die Residenz des
Gouverneurs, und das Ritterhaus, in welchem alle drei Jahre der
Landtag des Herzogthumes abgehalten wird.

Von den in der Unterstadt gelegenen Bauten ist vor Allem die
1329 erbaute St. Clauskirche zu erwähnen, welche den höchsten
Thurm in ganz Russland besitzt (145 m hoch). Die Kirche ist im
gothischen Style erbaut und wohl eine der schönsten in den Ostsee-
provinzen. Die Nikolauskirche besitzt am Eingange einen Todtentanz,
ähnlich dem in der St. Marienkirche zu Lübeck. Die älteste Kirche
ist die Heiligengeistkirche, die bereits im Jahre 1284 erwähnt wird.
Sie ist ebenfalls im gothischen Style aufgeführt. Das Rathhaus zeichnet

Der atlantische Ocean.
sich über der Landschaft wölbt, erinnert das Bild an Neapel. Aber
auch nur im Sommer. Denn in der rauheren Jahreszeit thürmen sich
die Eisschollen im Hafen übereinander, und ein winterlicher Schleier
bedeckt das im Sommer so reizende Bild. Im Sommer ist Reval auch
seiner herrlichen Lage wegen ein vielbesuchtes Seebad.

Reval, die Hauptstadt des Gouvernements Esthland, ist der Ein-
wohnerzahl nach — 50.500 — die zweite Stadt der Ostseepro-
vinzen. Der Kern ihrer Bevölkerung ist ebenso wie in Riga deutsch,
der Zahl nach überwiegen aber die Esthen. Die Stadt zerfällt von
Alters her in den oberen Theil, den sogenannten Dom, auf dem hohen
Saum der Felsenküste, dem Schlossberge liegend, in die eigentliche
oder Unterstadt an dem niedrigen sandigen Ufer des Hafens und in
die ausgedehnten an der Bucht sich hinziehenden Vorstädte.

Reval entstand als Stadt um eine 1219 von den Dänen, den Verbündeten
der Schwertbrüder, erbaute Festung herum, welche an Stelle der zerstörten Festung
der Esthen, Lindanissa, errichtet worden war. Die Stadt erhielt schon 1248 vom
dänischen König lübisches Recht und lübische Verfassung. Das Deutschthum er-
starkte immer mehr, und die dänische Bevölkerung wurde allmälig in die Festung,
den Dom, zurückgedrängt.

Auch in Reval theilte sich wie in Riga das Bürgerthum in zwei Gilden und
bestanden die Schwarzhäupter. Die Stadt musste mit Esthland gemeinsam wieder-
holt ihre Herrscher wechseln, bis sie nach vielen Stürmen endlich durch den
Nystädter Frieden 1721 an Russland gelangte. Obwohl unter diesem eine Zeit-
lang durch die Concurrenz St. Petersburgs in ihrer Entwicklung gehemmt, hat sie
doch in neuerer Zeit infolge der Eisenbahnverbindungen mit den beiden Haupt-
städten des Reiches und durch die Verbesserung des Hafens einen bedeutenden
Aufschwung genommen.

Der obere Theil der Stadt, der Dom, wird meist vom esthlän-
dischen Adel und den kaiserlichen Oberbehörden bewohnt. An den
Schlossberg selbst knüpfen sich manche esthnische Sagen. In diesem
Theile der Stadt befindet sich die Domkirche mit den Grabdenk-
mälern vieler berühmter Männer, das Schloss, jetzt die Residenz des
Gouverneurs, und das Ritterhaus, in welchem alle drei Jahre der
Landtag des Herzogthumes abgehalten wird.

Von den in der Unterstadt gelegenen Bauten ist vor Allem die
1329 erbaute St. Clauskirche zu erwähnen, welche den höchsten
Thurm in ganz Russland besitzt (145 m hoch). Die Kirche ist im
gothischen Style erbaut und wohl eine der schönsten in den Ostsee-
provinzen. Die Nikolauskirche besitzt am Eingange einen Todtentanz,
ähnlich dem in der St. Marienkirche zu Lübeck. Die älteste Kirche
ist die Heiligengeistkirche, die bereits im Jahre 1284 erwähnt wird.
Sie ist ebenfalls im gothischen Style aufgeführt. Das Rathhaus zeichnet

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[858/0878] Der atlantische Ocean. sich über der Landschaft wölbt, erinnert das Bild an Neapel. Aber auch nur im Sommer. Denn in der rauheren Jahreszeit thürmen sich die Eisschollen im Hafen übereinander, und ein winterlicher Schleier bedeckt das im Sommer so reizende Bild. Im Sommer ist Reval auch seiner herrlichen Lage wegen ein vielbesuchtes Seebad. Reval, die Hauptstadt des Gouvernements Esthland, ist der Ein- wohnerzahl nach — 50.500 — die zweite Stadt der Ostseepro- vinzen. Der Kern ihrer Bevölkerung ist ebenso wie in Riga deutsch, der Zahl nach überwiegen aber die Esthen. Die Stadt zerfällt von Alters her in den oberen Theil, den sogenannten Dom, auf dem hohen Saum der Felsenküste, dem Schlossberge liegend, in die eigentliche oder Unterstadt an dem niedrigen sandigen Ufer des Hafens und in die ausgedehnten an der Bucht sich hinziehenden Vorstädte. Reval entstand als Stadt um eine 1219 von den Dänen, den Verbündeten der Schwertbrüder, erbaute Festung herum, welche an Stelle der zerstörten Festung der Esthen, Lindanissa, errichtet worden war. Die Stadt erhielt schon 1248 vom dänischen König lübisches Recht und lübische Verfassung. Das Deutschthum er- starkte immer mehr, und die dänische Bevölkerung wurde allmälig in die Festung, den Dom, zurückgedrängt. Auch in Reval theilte sich wie in Riga das Bürgerthum in zwei Gilden und bestanden die Schwarzhäupter. Die Stadt musste mit Esthland gemeinsam wieder- holt ihre Herrscher wechseln, bis sie nach vielen Stürmen endlich durch den Nystädter Frieden 1721 an Russland gelangte. Obwohl unter diesem eine Zeit- lang durch die Concurrenz St. Petersburgs in ihrer Entwicklung gehemmt, hat sie doch in neuerer Zeit infolge der Eisenbahnverbindungen mit den beiden Haupt- städten des Reiches und durch die Verbesserung des Hafens einen bedeutenden Aufschwung genommen. Der obere Theil der Stadt, der Dom, wird meist vom esthlän- dischen Adel und den kaiserlichen Oberbehörden bewohnt. An den Schlossberg selbst knüpfen sich manche esthnische Sagen. In diesem Theile der Stadt befindet sich die Domkirche mit den Grabdenk- mälern vieler berühmter Männer, das Schloss, jetzt die Residenz des Gouverneurs, und das Ritterhaus, in welchem alle drei Jahre der Landtag des Herzogthumes abgehalten wird. Von den in der Unterstadt gelegenen Bauten ist vor Allem die 1329 erbaute St. Clauskirche zu erwähnen, welche den höchsten Thurm in ganz Russland besitzt (145 m hoch). Die Kirche ist im gothischen Style erbaut und wohl eine der schönsten in den Ostsee- provinzen. Die Nikolauskirche besitzt am Eingange einen Todtentanz, ähnlich dem in der St. Marienkirche zu Lübeck. Die älteste Kirche ist die Heiligengeistkirche, die bereits im Jahre 1284 erwähnt wird. Sie ist ebenfalls im gothischen Style aufgeführt. Das Rathhaus zeichnet

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 858. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/878>, abgerufen am 23.11.2024.