Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
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ple_083.001 ple_083.015 ple_083.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"> <pb facs="#f0097" n="83"/> <lb n="ple_083.001"/> <lg> <l>Aber bei dem wohlbestellten Essen</l> <lb n="ple_083.002"/> <l>Wird die Lust der Speise nicht erregt;</l> <lb n="ple_083.003"/> <l>Müdigkeit läßt Speis' und Trank vergessen,</l> <lb n="ple_083.004"/> <l>Daß er angekleidet sich aufs Bette legt;</l> <lb n="ple_083.005"/> <l>Und er schlummert fast,</l> <lb n="ple_083.006"/> <l>Als ein seltner Gast</l> <lb n="ple_083.007"/> <l>Sich zur offnen Tür hereinbewegt. </l> </lg> <lg> <lb n="ple_083.008"/> <l>Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer</l> <lb n="ple_083.009"/> <l>Tritt, mit weißem Schleier und Gewand,</l> <lb n="ple_083.010"/> <l>Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer,</l> <lb n="ple_083.011"/> <l>Um die Stirn ein schwarz- und goldnes Band.</l> <lb n="ple_083.012"/> <l>Wie sie ihn erblickt,</l> <lb n="ple_083.013"/> <l>Hebt sie, die erschrickt,</l> <lb n="ple_083.014"/> <l>Mit Erstaunen eine weiße Hand.</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_083.015"/> Auch diese Strophen wirken im hohen Maße anschaulich plastisch, und <lb n="ple_083.016"/> doch sind die Bezeichnungen, die der Dichter wählt, fast alle ganz allgemeiner <lb n="ple_083.017"/> Natur und entbehren im einzelnen jeder sinnlichen Bestimmtheit: <lb n="ple_083.018"/> ein Jüngling, die Mutter, Wein und Essen; — man vergleiche diese Darstellungsweise <lb n="ple_083.019"/> mit den entsprechenden Szenen der Gastfreundschaft bei <lb n="ple_083.020"/> Homer, mit ihrem Reichtum an anschaulichen Einzelheiten! Die weiße <lb n="ple_083.021"/> Kleidung, das schwarz und goldene Band um die Stirn des Mädchens ist <lb n="ple_083.022"/> bei Goethe das einzige unmittelbar Sinnenfällige. Aber von vornherein <lb n="ple_083.023"/> werden wir in den Seelenzustand des Jünglings versetzt, und das innerliche <lb n="ple_083.024"/> Wesen der Personen tritt lebhaft hervor. Die Mutter sagt vorsorgend <lb n="ple_083.025"/> gute Nacht; das Mädchen tritt still und sittsam ins Zimmer; so ruft der <lb n="ple_083.026"/> Dichter eine lebendige Mitempfindung hervor, und eben diese ist es, was <lb n="ple_083.027"/> uns die Illusion der Anschauung erregt.</p> <p><lb n="ple_083.028"/> Wir sehen: diese Beispiele stimmen. Nun aber erhebt sich gleichwohl <lb n="ple_083.029"/> die Frage, ob und wieweit man das Recht hat, ihre Geltung zu verallgemeinern. <lb n="ple_083.030"/> Ist das Verhältnis zwischen Gefühl und Anschauung in der <lb n="ple_083.031"/> Tat immer das gleiche? Erweckt eine kraftvolle Stimmung, wo sie uns <lb n="ple_083.032"/> in einem Gedicht entgegentritt, stets anschauliche Bilder? Und umgekehrt: <lb n="ple_083.033"/> erwächst anschauliche Wirklichkeit stets und einzig aus der Lebendigkeit <lb n="ple_083.034"/> eines Gefühlstons? Auch hier sollen ein paar Beispiele der Zweifel veranschaulichen <lb n="ple_083.035"/> und begründen. Ich setze zunächst ein Gedicht von Paul <lb n="ple_083.036"/> Verlaine hierher, das in freier Übertragung folgendermaßen lautet: <lb n="ple_083.037"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Erinn'rungsträume fahl in Dämmertiefen</l><lb n="ple_083.038"/><l>Am rot erglühten Abendhimmel schwanken,</l><lb n="ple_083.039"/><l>Die einst als Tageshoffnungen mich riefen!</l><lb n="ple_083.040"/><l>Es wächst die Glut im Weichen: sieh' da ranken</l><lb n="ple_083.041"/><l>Narzissen, Tulpen, Lilien auch, die schlanken,</l><lb n="ple_083.042"/><l>Geheimnisvoll empor an gold'nen Schranken.</l><lb n="ple_083.043"/><l>Betäubend süße Düfte ringsum triefen,</l><lb n="ple_083.044"/><l>Die in der Blumen stillen Kelchen schliefen,</l><lb n="ple_083.045"/><l>— Narzissen, Tulpen, Lilien auch, den schlanken —</l></lg></hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [83/0097]
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Aber bei dem wohlbestellten Essen ple_083.002
Wird die Lust der Speise nicht erregt; ple_083.003
Müdigkeit läßt Speis' und Trank vergessen, ple_083.004
Daß er angekleidet sich aufs Bette legt; ple_083.005
Und er schlummert fast, ple_083.006
Als ein seltner Gast ple_083.007
Sich zur offnen Tür hereinbewegt.
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Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer ple_083.009
Tritt, mit weißem Schleier und Gewand, ple_083.010
Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer, ple_083.011
Um die Stirn ein schwarz- und goldnes Band. ple_083.012
Wie sie ihn erblickt, ple_083.013
Hebt sie, die erschrickt, ple_083.014
Mit Erstaunen eine weiße Hand.
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Auch diese Strophen wirken im hohen Maße anschaulich plastisch, und ple_083.016
doch sind die Bezeichnungen, die der Dichter wählt, fast alle ganz allgemeiner ple_083.017
Natur und entbehren im einzelnen jeder sinnlichen Bestimmtheit: ple_083.018
ein Jüngling, die Mutter, Wein und Essen; — man vergleiche diese Darstellungsweise ple_083.019
mit den entsprechenden Szenen der Gastfreundschaft bei ple_083.020
Homer, mit ihrem Reichtum an anschaulichen Einzelheiten! Die weiße ple_083.021
Kleidung, das schwarz und goldene Band um die Stirn des Mädchens ist ple_083.022
bei Goethe das einzige unmittelbar Sinnenfällige. Aber von vornherein ple_083.023
werden wir in den Seelenzustand des Jünglings versetzt, und das innerliche ple_083.024
Wesen der Personen tritt lebhaft hervor. Die Mutter sagt vorsorgend ple_083.025
gute Nacht; das Mädchen tritt still und sittsam ins Zimmer; so ruft der ple_083.026
Dichter eine lebendige Mitempfindung hervor, und eben diese ist es, was ple_083.027
uns die Illusion der Anschauung erregt.
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Wir sehen: diese Beispiele stimmen. Nun aber erhebt sich gleichwohl ple_083.029
die Frage, ob und wieweit man das Recht hat, ihre Geltung zu verallgemeinern. ple_083.030
Ist das Verhältnis zwischen Gefühl und Anschauung in der ple_083.031
Tat immer das gleiche? Erweckt eine kraftvolle Stimmung, wo sie uns ple_083.032
in einem Gedicht entgegentritt, stets anschauliche Bilder? Und umgekehrt: ple_083.033
erwächst anschauliche Wirklichkeit stets und einzig aus der Lebendigkeit ple_083.034
eines Gefühlstons? Auch hier sollen ein paar Beispiele der Zweifel veranschaulichen ple_083.035
und begründen. Ich setze zunächst ein Gedicht von Paul ple_083.036
Verlaine hierher, das in freier Übertragung folgendermaßen lautet: ple_083.037
Erinn'rungsträume fahl in Dämmertiefen ple_083.038
Am rot erglühten Abendhimmel schwanken, ple_083.039
Die einst als Tageshoffnungen mich riefen! ple_083.040
Es wächst die Glut im Weichen: sieh' da ranken ple_083.041
Narzissen, Tulpen, Lilien auch, die schlanken, ple_083.042
Geheimnisvoll empor an gold'nen Schranken. ple_083.043
Betäubend süße Düfte ringsum triefen, ple_083.044
Die in der Blumen stillen Kelchen schliefen, ple_083.045
— Narzissen, Tulpen, Lilien auch, den schlanken —
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