Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_066.001 ple_066.009 ple_066.042 ple_066.001 ple_066.009 ple_066.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0080" n="66"/><lb n="ple_066.001"/> keine Schranken — von Dem allen nichts mehr zu sehen.“ Aber er <lb n="ple_066.002"/> wußte wohl, warum er die Ausführung unterließ: kein größeres Gedicht vermag <lb n="ple_066.003"/> der Kontraste zu entbehren, die ein für allemal einen der notwendigsten <lb n="ple_066.004"/> Bestandteile aller künstlerischen Wirkung bilden; auch die glanzvolle <lb n="ple_066.005"/> Schlußapotheose des Faust würde jeden tieferen Eindruck verfehlen, <lb n="ple_066.006"/> wenn uns nicht durch das Gebet der Büßerinnen und besonders durch die <lb n="ple_066.007"/> rührenden Worte Gretchens der Gegensatz der einstigen Not zur jetzigen <lb n="ple_066.008"/> Seligkeit vor Augen träte.</p> <p><lb n="ple_066.009"/> Die entgegengesetzte Schranke findet die Kunst des Dichters in der <lb n="ple_066.010"/> Wiedergabe des physisch Abstoßenden und Widerwärtigen. Schon Moses <lb n="ple_066.011"/> Mendelssohn und ihm folgend Lessing im Laokoon suchten im Begriff des <lb n="ple_066.012"/> <hi rendition="#g">Ekelhaften</hi> eine solche Schranke festzustellen. Aber dieser Begriff ist, bei <lb n="ple_066.013"/> Lessing wenigstens, nicht scharf genug von dem allgemeineren des Häßlichen <lb n="ple_066.014"/> geschieden. War sich doch Lessing auch über die Berechtigung <lb n="ple_066.015"/> des Häßlichen in der Kunst nicht völlig klar und selbst in der Dichtung <lb n="ple_066.016"/> will er sie nur zu sehr beschränkten Zwecken gelten lassen. Für uns <lb n="ple_066.017"/> Heutige unterliegt es keinem Zweifel, daß die Poesie wie die Malerei, <lb n="ple_066.018"/> wenn sie charakterisieren und lebendig gestalten will, das Häßliche nicht <lb n="ple_066.019"/> entbehren kann. Aber es ist auch klar, wo seine Verwendung ihre Grenzen <lb n="ple_066.020"/> hat, nämlich überall da, wo es psychologisch abstoßend wirkt und unsere <lb n="ple_066.021"/> Nerven in einer Weise erregt, die statt der Versenkung in das Kunstwerk <lb n="ple_066.022"/> notwendig die Aufmerksamkeit auf unsere eigenen körperlichen Zustände <lb n="ple_066.023"/> lenkt. Freilich die Nerven der Menschen sind verschieden, und hier zeigt <lb n="ple_066.024"/> sich im Laufe der Kulturentwicklung ein Wandel in der Art der Empfänglichkeit: <lb n="ple_066.025"/> kräftigere und rohere Geschlechter vertragen mehr als Zeitalter <lb n="ple_066.026"/> verfeinerter Kultur. Die Blendung Glosters mit ihren Einzelheiten, die <lb n="ple_066.027"/> Shakespeare ganz unbefangen darstellt, würde schwerlich irgend ein heutiges <lb n="ple_066.028"/> Publikum mit ansehen mögen. Und doch haben die Leute, die vor zwanzig <lb n="ple_066.029"/> Jahren Tolstois „Macht der Finsternis“ oder Gerhard Hauptmanns „Vor <lb n="ple_066.030"/> Sonnenuntergang“ zujubelten, bewiesen, daß man auch ihren Nerven noch <lb n="ple_066.031"/> einiges zumuten kann, was nicht jedermanns Geschmack ist. Modeströmungen <lb n="ple_066.032"/> vermögen durch ihre eigentümliche Suggestionskraft die physiologische <lb n="ple_066.033"/> wie die moralische Empfindlichkeit zu schärfen oder abzustumpfen <lb n="ple_066.034"/> und je nachdem Verzärtelung wie Verrohung des Geschmacks zu fördern. <lb n="ple_066.035"/> Gleichwohl wird sich wohl mit einiger Sicherheit und Allgemeinheit feststellen <lb n="ple_066.036"/> lassen, was auf einen kultivierten, wenn auch nicht überfeinerten <lb n="ple_066.037"/> Geschmack noch künstlerisch wirken kann, und die vergleichende Erfahrung <lb n="ple_066.038"/> über verschiedene Zeitalter und Geschlechter kann uns das Dauernde, im Wesen <lb n="ple_066.039"/> der Kunst und der Menschennatur Begründete von jenen künstlichen durch die <lb n="ple_066.040"/> Mode hervorgebrachten Steigerungen scheiden lehren. Nur daß die Grenze <lb n="ple_066.041"/> nicht durch eine scharfe Linie, sondern durch eine breitere Zone gebildet wird.</p> <p><lb n="ple_066.042"/> Diese Erscheinung führt uns auf ein Bedenken allgemeiner Art, das <lb n="ple_066.043"/> man gegen den Versuch, Dichtungen künstlerisch zu werten, mit allem </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0080]
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keine Schranken — von Dem allen nichts mehr zu sehen.“ Aber er ple_066.002
wußte wohl, warum er die Ausführung unterließ: kein größeres Gedicht vermag ple_066.003
der Kontraste zu entbehren, die ein für allemal einen der notwendigsten ple_066.004
Bestandteile aller künstlerischen Wirkung bilden; auch die glanzvolle ple_066.005
Schlußapotheose des Faust würde jeden tieferen Eindruck verfehlen, ple_066.006
wenn uns nicht durch das Gebet der Büßerinnen und besonders durch die ple_066.007
rührenden Worte Gretchens der Gegensatz der einstigen Not zur jetzigen ple_066.008
Seligkeit vor Augen träte.
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Die entgegengesetzte Schranke findet die Kunst des Dichters in der ple_066.010
Wiedergabe des physisch Abstoßenden und Widerwärtigen. Schon Moses ple_066.011
Mendelssohn und ihm folgend Lessing im Laokoon suchten im Begriff des ple_066.012
Ekelhaften eine solche Schranke festzustellen. Aber dieser Begriff ist, bei ple_066.013
Lessing wenigstens, nicht scharf genug von dem allgemeineren des Häßlichen ple_066.014
geschieden. War sich doch Lessing auch über die Berechtigung ple_066.015
des Häßlichen in der Kunst nicht völlig klar und selbst in der Dichtung ple_066.016
will er sie nur zu sehr beschränkten Zwecken gelten lassen. Für uns ple_066.017
Heutige unterliegt es keinem Zweifel, daß die Poesie wie die Malerei, ple_066.018
wenn sie charakterisieren und lebendig gestalten will, das Häßliche nicht ple_066.019
entbehren kann. Aber es ist auch klar, wo seine Verwendung ihre Grenzen ple_066.020
hat, nämlich überall da, wo es psychologisch abstoßend wirkt und unsere ple_066.021
Nerven in einer Weise erregt, die statt der Versenkung in das Kunstwerk ple_066.022
notwendig die Aufmerksamkeit auf unsere eigenen körperlichen Zustände ple_066.023
lenkt. Freilich die Nerven der Menschen sind verschieden, und hier zeigt ple_066.024
sich im Laufe der Kulturentwicklung ein Wandel in der Art der Empfänglichkeit: ple_066.025
kräftigere und rohere Geschlechter vertragen mehr als Zeitalter ple_066.026
verfeinerter Kultur. Die Blendung Glosters mit ihren Einzelheiten, die ple_066.027
Shakespeare ganz unbefangen darstellt, würde schwerlich irgend ein heutiges ple_066.028
Publikum mit ansehen mögen. Und doch haben die Leute, die vor zwanzig ple_066.029
Jahren Tolstois „Macht der Finsternis“ oder Gerhard Hauptmanns „Vor ple_066.030
Sonnenuntergang“ zujubelten, bewiesen, daß man auch ihren Nerven noch ple_066.031
einiges zumuten kann, was nicht jedermanns Geschmack ist. Modeströmungen ple_066.032
vermögen durch ihre eigentümliche Suggestionskraft die physiologische ple_066.033
wie die moralische Empfindlichkeit zu schärfen oder abzustumpfen ple_066.034
und je nachdem Verzärtelung wie Verrohung des Geschmacks zu fördern. ple_066.035
Gleichwohl wird sich wohl mit einiger Sicherheit und Allgemeinheit feststellen ple_066.036
lassen, was auf einen kultivierten, wenn auch nicht überfeinerten ple_066.037
Geschmack noch künstlerisch wirken kann, und die vergleichende Erfahrung ple_066.038
über verschiedene Zeitalter und Geschlechter kann uns das Dauernde, im Wesen ple_066.039
der Kunst und der Menschennatur Begründete von jenen künstlichen durch die ple_066.040
Mode hervorgebrachten Steigerungen scheiden lehren. Nur daß die Grenze ple_066.041
nicht durch eine scharfe Linie, sondern durch eine breitere Zone gebildet wird.
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Diese Erscheinung führt uns auf ein Bedenken allgemeiner Art, das ple_066.043
man gegen den Versuch, Dichtungen künstlerisch zu werten, mit allem
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