Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_048.001 ple_048.013 ple_048.001 ple_048.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0062" n="48"/><lb n="ple_048.001"/> ergeben scheint. Auf Schillers Räuber haben die Tragödien des Bruderzwists <lb n="ple_048.002"/> aus der Sturm- und Drangperiode wohl Einfluß ausgeübt, aber das <lb n="ple_048.003"/> Motiv der gegnerischen Brüder stammt bekanntlich nicht von daher, sondern <lb n="ple_048.004"/> aus einer Schubartschen Novelle. — Immerhin ist trotz dieser Einschränkungen <lb n="ple_048.005"/> die <hi rendition="#g">geschichtliche</hi> Behandlung und Vergleichung der <lb n="ple_048.006"/> Motive von einem gewissen, wenn auch eingeschränkten Interesse für die <lb n="ple_048.007"/> Literaturgeschichte; einer Systematisierung der Stoffe und Motive aber, <lb n="ple_048.008"/> einem schematischen Verzeichnis, wie es Scherer als „allgemeine Motivenlehre“ <lb n="ple_048.009"/> vorschwebte, fehlt jeder wissenschaftliche wie praktische Wert, schon <lb n="ple_048.010"/> weil, wie Scherer selbst zugeben muß, das Gebiet der möglichen Stoffe <lb n="ple_048.011"/> mit dem Gebiet der gesamten Natur wie des Menschenlebens zusammenfallen <lb n="ple_048.012"/> würde. —</p> <p><lb n="ple_048.013"/> Wie verfährt die Poetik nun, um verständlich zu machen, wie die <lb n="ple_048.014"/> Einheit des Dichtwerks in und aus den verschiedenen Bestandteilen der <lb n="ple_048.015"/> Dichtung erwächst? Eine anschauliche Antwort auf diese Frage können <lb n="ple_048.016"/> erst die folgenden Teile dieser Darstellung geben. Nur <hi rendition="#g">ein</hi> methodischer <lb n="ple_048.017"/> Gesichtspunkt von allgemeiner Bedeutung soll schon hier hervorgehoben <lb n="ple_048.018"/> werden. Eine organische Einheit werden wir, das liegt im Worte selbst, <lb n="ple_048.019"/> immer nur als eine <hi rendition="#g">zweckmäßige</hi> begreifen können. Wie die Biologie <lb n="ple_048.020"/> in der Erklärung der Organismen und ihrer Funktionen sich im einzelnen <lb n="ple_048.021"/> des Zweckbegriffs bedienen muß, so wird auch die Poetik die Einheit des <lb n="ple_048.022"/> dichterischen Kunstwerks immer nur als eine gewollte und beabsichtigte <lb n="ple_048.023"/> begreifen können. Hierin steht sie nun in völliger Übereinstimmung mit <lb n="ple_048.024"/> dem, was wir im vorigen Abschnitt über den psychologischen Vorgang <lb n="ple_048.025"/> des künstlerischen Schaffens erfahren haben: die Gestaltung eines Kunstwerks <lb n="ple_048.026"/> ist niemals ohne eine ihr voraufgehende künstlerische Absicht zu <lb n="ple_048.027"/> denken, deren Verwirklichung sie ist. Wenn wir ein Kunstwerk, so wie es <lb n="ple_048.028"/> uns objektiv entgegentritt, als Einheit erfassen wollen, so können wir das <lb n="ple_048.029"/> nicht anders, als indem wir die einheitliche Intention erschließen, aus der <lb n="ple_048.030"/> es hervorgegangen ist, und alle Einzelheiten als Bestandteile des Kunstwerks <lb n="ple_048.031"/> auf diese Intention beziehen; wir betrachten, wie die Ausdrucksmittel <lb n="ple_048.032"/> der Kunst im Dienste dieser einheitlichen Absicht ausgewählt und <lb n="ple_048.033"/> verwendet, die äußere und innere Form durch sie bestimmt sind. Die <lb n="ple_048.034"/> Intention des Dichters zielt immer auf eine bestimmte Wirkung, und sie ist <lb n="ple_048.035"/> daher weder zu verstehen noch auch nur zu denken ohne ein gewisses <lb n="ple_048.036"/> Maß von Erfahrung, von den Ursachen und Mitteln, kurz von der psychischen <lb n="ple_048.037"/> Gesetzmäßigkeit überhaupt, der künstlerische Wirkungen unterliegen. Die <lb n="ple_048.038"/> zweckmäßige Organisation des Kunstwerks entspringt keinem mystischen <lb n="ple_048.039"/> Zusammenhange, sondern den psychologischen Gesetzen, die alles seelische <lb n="ple_048.040"/> Geschehen beherrschen. Insofern kann auch die Poetik des steten Hinblicks <lb n="ple_048.041"/> auf die Psychologie ebensowenig entbehren wie eine der anderen <lb n="ple_048.042"/> Geisteswissenschaften, aber ebensowenig wie diese kann und will sie die <lb n="ple_048.043"/> Erscheinung, die sie untersucht, in psychologische Elementarvorgänge auflösen. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [48/0062]
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ergeben scheint. Auf Schillers Räuber haben die Tragödien des Bruderzwists ple_048.002
aus der Sturm- und Drangperiode wohl Einfluß ausgeübt, aber das ple_048.003
Motiv der gegnerischen Brüder stammt bekanntlich nicht von daher, sondern ple_048.004
aus einer Schubartschen Novelle. — Immerhin ist trotz dieser Einschränkungen ple_048.005
die geschichtliche Behandlung und Vergleichung der ple_048.006
Motive von einem gewissen, wenn auch eingeschränkten Interesse für die ple_048.007
Literaturgeschichte; einer Systematisierung der Stoffe und Motive aber, ple_048.008
einem schematischen Verzeichnis, wie es Scherer als „allgemeine Motivenlehre“ ple_048.009
vorschwebte, fehlt jeder wissenschaftliche wie praktische Wert, schon ple_048.010
weil, wie Scherer selbst zugeben muß, das Gebiet der möglichen Stoffe ple_048.011
mit dem Gebiet der gesamten Natur wie des Menschenlebens zusammenfallen ple_048.012
würde. —
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Wie verfährt die Poetik nun, um verständlich zu machen, wie die ple_048.014
Einheit des Dichtwerks in und aus den verschiedenen Bestandteilen der ple_048.015
Dichtung erwächst? Eine anschauliche Antwort auf diese Frage können ple_048.016
erst die folgenden Teile dieser Darstellung geben. Nur ein methodischer ple_048.017
Gesichtspunkt von allgemeiner Bedeutung soll schon hier hervorgehoben ple_048.018
werden. Eine organische Einheit werden wir, das liegt im Worte selbst, ple_048.019
immer nur als eine zweckmäßige begreifen können. Wie die Biologie ple_048.020
in der Erklärung der Organismen und ihrer Funktionen sich im einzelnen ple_048.021
des Zweckbegriffs bedienen muß, so wird auch die Poetik die Einheit des ple_048.022
dichterischen Kunstwerks immer nur als eine gewollte und beabsichtigte ple_048.023
begreifen können. Hierin steht sie nun in völliger Übereinstimmung mit ple_048.024
dem, was wir im vorigen Abschnitt über den psychologischen Vorgang ple_048.025
des künstlerischen Schaffens erfahren haben: die Gestaltung eines Kunstwerks ple_048.026
ist niemals ohne eine ihr voraufgehende künstlerische Absicht zu ple_048.027
denken, deren Verwirklichung sie ist. Wenn wir ein Kunstwerk, so wie es ple_048.028
uns objektiv entgegentritt, als Einheit erfassen wollen, so können wir das ple_048.029
nicht anders, als indem wir die einheitliche Intention erschließen, aus der ple_048.030
es hervorgegangen ist, und alle Einzelheiten als Bestandteile des Kunstwerks ple_048.031
auf diese Intention beziehen; wir betrachten, wie die Ausdrucksmittel ple_048.032
der Kunst im Dienste dieser einheitlichen Absicht ausgewählt und ple_048.033
verwendet, die äußere und innere Form durch sie bestimmt sind. Die ple_048.034
Intention des Dichters zielt immer auf eine bestimmte Wirkung, und sie ist ple_048.035
daher weder zu verstehen noch auch nur zu denken ohne ein gewisses ple_048.036
Maß von Erfahrung, von den Ursachen und Mitteln, kurz von der psychischen ple_048.037
Gesetzmäßigkeit überhaupt, der künstlerische Wirkungen unterliegen. Die ple_048.038
zweckmäßige Organisation des Kunstwerks entspringt keinem mystischen ple_048.039
Zusammenhange, sondern den psychologischen Gesetzen, die alles seelische ple_048.040
Geschehen beherrschen. Insofern kann auch die Poetik des steten Hinblicks ple_048.041
auf die Psychologie ebensowenig entbehren wie eine der anderen ple_048.042
Geisteswissenschaften, aber ebensowenig wie diese kann und will sie die ple_048.043
Erscheinung, die sie untersucht, in psychologische Elementarvorgänge auflösen.
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