Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_041.001 ple_041.029 ple_041.001 ple_041.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0055" n="41"/><lb n="ple_041.001"/> Dichtung in einen Prozeß auf, der im Innern des Dichters vor sich geht. <lb n="ple_041.002"/> Die Erkenntnis dieses Prozesses ist psychologisch von höchstem Interesse, <lb n="ple_041.003"/> aber sie leistet nichts, was sein Erzeugnis, das objektiv vorhandene <lb n="ple_041.004"/> Kunstwerk, an sich kenntlich und seiner inneren Eigenart, man möchte <lb n="ple_041.005"/> sagen, seinem eigenen Leben nach verständlich macht. Um ein Kunstwerk <lb n="ple_041.006"/> als solches zu verstehen, müssen wir es unter künstlerischen Gesichtspunkten <lb n="ple_041.007"/> betrachten lernen. Wir müssen es mit den Augen sehen, mit <lb n="ple_041.008"/> denen der Künstler selbst es gesehen hat und mit denen er wünschte, daß <lb n="ple_041.009"/> seine Hörer und Zuschauer es sehen sollten. Im Bewußtsein des Dichters <lb n="ple_041.010"/> erscheint die Dichtung, wie sie allmählich entsteht und vollendet wird, <lb n="ple_041.011"/> nicht als ein Teil seines Seelenlebens, sondern als ein Stück Leben für <lb n="ple_041.012"/> sich, ein Ereignis, ein Gegenstand zum Anschauen und zum Eindringen. <lb n="ple_041.013"/> Er glaubt, was er dichtet, nicht zu erleben, sondern mitzuerleben. Auch <lb n="ple_041.014"/> wenn es sein eigenstes Schicksal ist und sein eigenstes Fühlen, das er im <lb n="ple_041.015"/> Kunstwerk darstellt: zum Kunstwerk wird es erst, indem es sich objektiviert, <lb n="ple_041.016"/> d. h. sich von seiner Persönlichkeit loslöst und ein eigenes Dasein in seiner <lb n="ple_041.017"/> Phantasie zu entfalten beginnt. Und nicht minder selbständig lebt das <lb n="ple_041.018"/> Dichtwerk in der Phantasie des verständnisvollen Hörers weiter, in der <lb n="ple_041.019"/> wechselnden Auffassung der Zeiten und Völker. Es spricht zu uns im geheimnisvollen <lb n="ple_041.020"/> Bunde mit unseren eigenen Erlebnissen; es sagt uns Dinge, <lb n="ple_041.021"/> die es seinem Schöpfer nicht sagen konnte, weil sie aus unseren Erinnerungen, <lb n="ple_041.022"/> aus unseren persönlichen Empfindungen erwachsen. Und doch <lb n="ple_041.023"/> sind auch hier Unterschiede, die dem verstandesmäßigen Urteil sehr wohl <lb n="ple_041.024"/> zugänglich sind. Man kann eine Dichtung falsch verstehen, indem man <lb n="ple_041.025"/> ihrem objektiven Geiste widerspricht; dem, der sie richtig versteht, sagt <lb n="ple_041.026"/> sie vielleicht manches, was der Dichter nicht mit Bewußtsein hineingelegt <lb n="ple_041.027"/> hat, — und doch ist alles, was sie ihm sagt, aus dem Geist des Dichters <lb n="ple_041.028"/> gesprochen.</p> <p><lb n="ple_041.029"/> Der künstlerischen Betrachtung erscheint das Kunstwerk als eine <lb n="ple_041.030"/> <hi rendition="#g">lebendige Einheit,</hi> ein Organismus, der in sich entwickelt und geschlossen <lb n="ple_041.031"/> ist und dessen Teile nur aus ihrem Verhältnis zu dem Ganzen, <lb n="ple_041.032"/> das sie bilden, verständlich werden. Ja, auch das hat das Werk des <lb n="ple_041.033"/> Dichters mit dem Lebewesen der schaffenden Natur gemein, daß es wie <lb n="ple_041.034"/> diese niemals in allen seinen Teilen und in seinem innersten Wesen dem <lb n="ple_041.035"/> analysierenden Verstande zugänglich ist. „Ein echtes Kunstwerk“, sagt <lb n="ple_041.036"/> Goethe, „bleibt wie ein Naturwerk vor dem Verstande immer unendlich.“ <lb n="ple_041.037"/> In der Tat, in jeder wahren Dichtung steckt etwas Irrationales, in Begriffen <lb n="ple_041.038"/> und Worten nicht Faßbares, und doch treibt uns ein unabweisbares Bedürfnis, <lb n="ple_041.039"/> uns mit verstandesmäßiger Erkenntnis dessen zu bemächtigen, was <lb n="ple_041.040"/> gefühlsmäßig auf uns wirkt; und auch dieser Wirkung Kraft und Samen, <lb n="ple_041.041"/> soweit es möglich ist, bei hellem Tageslicht zu schauen. Aus diesem Bedürfnis <lb n="ple_041.042"/> entspringt jedes ästhetische Denken, aus ihm insbesondere denn <lb n="ple_041.043"/> auch die <hi rendition="#g">Poetik als Kunstlehre.</hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [41/0055]
ple_041.001
Dichtung in einen Prozeß auf, der im Innern des Dichters vor sich geht. ple_041.002
Die Erkenntnis dieses Prozesses ist psychologisch von höchstem Interesse, ple_041.003
aber sie leistet nichts, was sein Erzeugnis, das objektiv vorhandene ple_041.004
Kunstwerk, an sich kenntlich und seiner inneren Eigenart, man möchte ple_041.005
sagen, seinem eigenen Leben nach verständlich macht. Um ein Kunstwerk ple_041.006
als solches zu verstehen, müssen wir es unter künstlerischen Gesichtspunkten ple_041.007
betrachten lernen. Wir müssen es mit den Augen sehen, mit ple_041.008
denen der Künstler selbst es gesehen hat und mit denen er wünschte, daß ple_041.009
seine Hörer und Zuschauer es sehen sollten. Im Bewußtsein des Dichters ple_041.010
erscheint die Dichtung, wie sie allmählich entsteht und vollendet wird, ple_041.011
nicht als ein Teil seines Seelenlebens, sondern als ein Stück Leben für ple_041.012
sich, ein Ereignis, ein Gegenstand zum Anschauen und zum Eindringen. ple_041.013
Er glaubt, was er dichtet, nicht zu erleben, sondern mitzuerleben. Auch ple_041.014
wenn es sein eigenstes Schicksal ist und sein eigenstes Fühlen, das er im ple_041.015
Kunstwerk darstellt: zum Kunstwerk wird es erst, indem es sich objektiviert, ple_041.016
d. h. sich von seiner Persönlichkeit loslöst und ein eigenes Dasein in seiner ple_041.017
Phantasie zu entfalten beginnt. Und nicht minder selbständig lebt das ple_041.018
Dichtwerk in der Phantasie des verständnisvollen Hörers weiter, in der ple_041.019
wechselnden Auffassung der Zeiten und Völker. Es spricht zu uns im geheimnisvollen ple_041.020
Bunde mit unseren eigenen Erlebnissen; es sagt uns Dinge, ple_041.021
die es seinem Schöpfer nicht sagen konnte, weil sie aus unseren Erinnerungen, ple_041.022
aus unseren persönlichen Empfindungen erwachsen. Und doch ple_041.023
sind auch hier Unterschiede, die dem verstandesmäßigen Urteil sehr wohl ple_041.024
zugänglich sind. Man kann eine Dichtung falsch verstehen, indem man ple_041.025
ihrem objektiven Geiste widerspricht; dem, der sie richtig versteht, sagt ple_041.026
sie vielleicht manches, was der Dichter nicht mit Bewußtsein hineingelegt ple_041.027
hat, — und doch ist alles, was sie ihm sagt, aus dem Geist des Dichters ple_041.028
gesprochen.
ple_041.029
Der künstlerischen Betrachtung erscheint das Kunstwerk als eine ple_041.030
lebendige Einheit, ein Organismus, der in sich entwickelt und geschlossen ple_041.031
ist und dessen Teile nur aus ihrem Verhältnis zu dem Ganzen, ple_041.032
das sie bilden, verständlich werden. Ja, auch das hat das Werk des ple_041.033
Dichters mit dem Lebewesen der schaffenden Natur gemein, daß es wie ple_041.034
diese niemals in allen seinen Teilen und in seinem innersten Wesen dem ple_041.035
analysierenden Verstande zugänglich ist. „Ein echtes Kunstwerk“, sagt ple_041.036
Goethe, „bleibt wie ein Naturwerk vor dem Verstande immer unendlich.“ ple_041.037
In der Tat, in jeder wahren Dichtung steckt etwas Irrationales, in Begriffen ple_041.038
und Worten nicht Faßbares, und doch treibt uns ein unabweisbares Bedürfnis, ple_041.039
uns mit verstandesmäßiger Erkenntnis dessen zu bemächtigen, was ple_041.040
gefühlsmäßig auf uns wirkt; und auch dieser Wirkung Kraft und Samen, ple_041.041
soweit es möglich ist, bei hellem Tageslicht zu schauen. Aus diesem Bedürfnis ple_041.042
entspringt jedes ästhetische Denken, aus ihm insbesondere denn ple_041.043
auch die Poetik als Kunstlehre.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |