Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_248.001 ple_248.004 ple_248.033 ple_248.001 ple_248.004 ple_248.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0262" n="248"/><lb n="ple_248.001"/> die tragische Erhebung hervorgeht. Solche Menschen wagen das Äußerste, <lb n="ple_248.002"/> um ihr Selbst zu behaupten, sie leiden und sterben lieber, als daß sie <lb n="ple_248.003"/> sich selber untreu werden.</p> <p><lb n="ple_248.004"/> Das schönste typische Beispiel ist Goethes Egmont. Er bleibt nicht <lb n="ple_248.005"/> aus Leichtsinn in Brüssel, wie es ihm eine schulmeisternde Weisheit untergelegt <lb n="ple_248.006"/> hat, sondern weil er seiner Natur nach nicht mißtrauen kann und <lb n="ple_248.007"/> will, weil er lieber zugrunde geht, als daß er sein innerstes Wesen, das <lb n="ple_248.008"/> auf rascher und reiner Wirksamkeit, auf frohem Lebensgenuß, auf offenem <lb n="ple_248.009"/> Vertrauen beruht, preisgäbe. So spricht er es dem Vertrauten gegenüber <lb n="ple_248.010"/> aus, und mit dem Bewußtsein, sich selbst treu geblieben zu sein, sieht er <lb n="ple_248.011"/> dem gewissen Tod ins Auge. „Eines jeden Tags hab' ich mich gefreut; <lb n="ple_248.012"/> an jedem Tage mit rascher Wirkung meine Pflicht getan, wie mein Gewissen <lb n="ple_248.013"/> sie mir zeigte.“ In diesem Sinne darf er uns zurufen: „Euer <lb n="ple_248.014"/> Liebstes zu erretten, fallt freudig, wie ich euch ein Beispiel gebe.“ Überhaupt <lb n="ple_248.015"/> liebt Goethe diese tragische Selbstbehauptung, wie er denn von dem <lb n="ple_248.016"/> Wert und der Naturgewalt der Persönlichkeit überzeugt ist. Fast alle <lb n="ple_248.017"/> seine Gestalten haben etwas davon, im Einklang mit dem Orphischen <lb n="ple_248.018"/> Urwort, nach dem keine Macht und keine Zeit die Persönlichkeit zerstückeln <lb n="ple_248.019"/> kann. Moderne Menschen werden vielleicht geneigt sein, diesen <lb n="ple_248.020"/> Kampf um eine eigene Persönlichkeit ebenfalls als einen sittlichen, die <lb n="ple_248.021"/> Erhaltung der Individualität als eine moralische Idee zu bezeichnen. Über <lb n="ple_248.022"/> das Wort braucht man nicht zu streiten: es mag wohl so sein. Daß aber <lb n="ple_248.023"/> dieses Ideal immerhin etwas anderes ist, als was die überlieferte Ethik als <lb n="ple_248.024"/> <hi rendition="#g">sittlich</hi> bezeichnet, ist klar. Weder Romeo noch Werther noch Grillparzers <lb n="ple_248.025"/> Hero und Leander handeln <hi rendition="#g">sittlich,</hi> auch Wallenstein nicht, sicherlich <lb n="ple_248.026"/> wenigstens nicht nach der Meinung seines Dichters, wiewohl er ganz aus <lb n="ple_248.027"/> dem Gefühl seiner Persönlichkeit heraus und nur zur Selbsterhaltung in <lb n="ple_248.028"/> jenem höheren Sinne zur Tat schreitet. „Zeigt einen Weg mir an aus <lb n="ple_248.029"/> diesem Drange, hilfreiche Mächte, einen solchen zeigt mir, den <hi rendition="#g">ich</hi> vermag <lb n="ple_248.030"/> zu gehen!“ Noch deutlicher beweisen das die Gestalten jener tragischen <lb n="ple_248.031"/> Verbrecher wie Richard III. und Franz Moor: in ihren Anlagen und Trieben <lb n="ple_248.032"/> liegt der Gegensatz gegen die Moral begründet.</p> <p><lb n="ple_248.033"/> Überhaupt läßt sich diese dritte Art der Tragik wohl theoretisch, aber <lb n="ple_248.034"/> nicht praktisch von den beiden ersten völlig abtrennen. Denn dem tragischen <lb n="ple_248.035"/> Helden, der unsern Anteil erregen soll, muß immer auch unabhängig von <lb n="ple_248.036"/> der Sache, die er verkämpft, ein Persönlichkeitswert zukommen. Eben im <lb n="ple_248.037"/> Tragischen des Verbrechens und der Strafe zeigt sich das am deutlichsten. Nur <lb n="ple_248.038"/> wo der Schuldige uns durch Geisteskraft imponiert, wie jene großen Bösewichter <lb n="ple_248.039"/> Shakespeares, oder durch Liebenswürdigkeit bestrickt, wie Goethes <lb n="ple_248.040"/> Adelheid, nur wo uns sein Untergang, wenn nicht mit Mitleid, so doch mit <lb n="ple_248.041"/> dem Gefühl: „Es ist schade um ihn!“ erfüllt, nur da ist eine tragische <lb n="ple_248.042"/> Wirkung möglich; sonst bleibt es bei der moralischen Bewertung, die Schiller <lb n="ple_248.043"/> in einem bekannten Spottgedicht so drastisch beschrieben hat. Je mehr </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [248/0262]
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die tragische Erhebung hervorgeht. Solche Menschen wagen das Äußerste, ple_248.002
um ihr Selbst zu behaupten, sie leiden und sterben lieber, als daß sie ple_248.003
sich selber untreu werden.
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Das schönste typische Beispiel ist Goethes Egmont. Er bleibt nicht ple_248.005
aus Leichtsinn in Brüssel, wie es ihm eine schulmeisternde Weisheit untergelegt ple_248.006
hat, sondern weil er seiner Natur nach nicht mißtrauen kann und ple_248.007
will, weil er lieber zugrunde geht, als daß er sein innerstes Wesen, das ple_248.008
auf rascher und reiner Wirksamkeit, auf frohem Lebensgenuß, auf offenem ple_248.009
Vertrauen beruht, preisgäbe. So spricht er es dem Vertrauten gegenüber ple_248.010
aus, und mit dem Bewußtsein, sich selbst treu geblieben zu sein, sieht er ple_248.011
dem gewissen Tod ins Auge. „Eines jeden Tags hab' ich mich gefreut; ple_248.012
an jedem Tage mit rascher Wirkung meine Pflicht getan, wie mein Gewissen ple_248.013
sie mir zeigte.“ In diesem Sinne darf er uns zurufen: „Euer ple_248.014
Liebstes zu erretten, fallt freudig, wie ich euch ein Beispiel gebe.“ Überhaupt ple_248.015
liebt Goethe diese tragische Selbstbehauptung, wie er denn von dem ple_248.016
Wert und der Naturgewalt der Persönlichkeit überzeugt ist. Fast alle ple_248.017
seine Gestalten haben etwas davon, im Einklang mit dem Orphischen ple_248.018
Urwort, nach dem keine Macht und keine Zeit die Persönlichkeit zerstückeln ple_248.019
kann. Moderne Menschen werden vielleicht geneigt sein, diesen ple_248.020
Kampf um eine eigene Persönlichkeit ebenfalls als einen sittlichen, die ple_248.021
Erhaltung der Individualität als eine moralische Idee zu bezeichnen. Über ple_248.022
das Wort braucht man nicht zu streiten: es mag wohl so sein. Daß aber ple_248.023
dieses Ideal immerhin etwas anderes ist, als was die überlieferte Ethik als ple_248.024
sittlich bezeichnet, ist klar. Weder Romeo noch Werther noch Grillparzers ple_248.025
Hero und Leander handeln sittlich, auch Wallenstein nicht, sicherlich ple_248.026
wenigstens nicht nach der Meinung seines Dichters, wiewohl er ganz aus ple_248.027
dem Gefühl seiner Persönlichkeit heraus und nur zur Selbsterhaltung in ple_248.028
jenem höheren Sinne zur Tat schreitet. „Zeigt einen Weg mir an aus ple_248.029
diesem Drange, hilfreiche Mächte, einen solchen zeigt mir, den ich vermag ple_248.030
zu gehen!“ Noch deutlicher beweisen das die Gestalten jener tragischen ple_248.031
Verbrecher wie Richard III. und Franz Moor: in ihren Anlagen und Trieben ple_248.032
liegt der Gegensatz gegen die Moral begründet.
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Überhaupt läßt sich diese dritte Art der Tragik wohl theoretisch, aber ple_248.034
nicht praktisch von den beiden ersten völlig abtrennen. Denn dem tragischen ple_248.035
Helden, der unsern Anteil erregen soll, muß immer auch unabhängig von ple_248.036
der Sache, die er verkämpft, ein Persönlichkeitswert zukommen. Eben im ple_248.037
Tragischen des Verbrechens und der Strafe zeigt sich das am deutlichsten. Nur ple_248.038
wo der Schuldige uns durch Geisteskraft imponiert, wie jene großen Bösewichter ple_248.039
Shakespeares, oder durch Liebenswürdigkeit bestrickt, wie Goethes ple_248.040
Adelheid, nur wo uns sein Untergang, wenn nicht mit Mitleid, so doch mit ple_248.041
dem Gefühl: „Es ist schade um ihn!“ erfüllt, nur da ist eine tragische ple_248.042
Wirkung möglich; sonst bleibt es bei der moralischen Bewertung, die Schiller ple_248.043
in einem bekannten Spottgedicht so drastisch beschrieben hat. Je mehr
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