Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_246.001 ple_246.015 ple_246.030 ple_246.042 ple_246.001 ple_246.015 ple_246.030 ple_246.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0260" n="246"/><lb n="ple_246.001"/> dem schönen Goetheschen Ausdruck, „daß es noch lebt und schlägt und <lb n="ple_246.002"/> möchte schlagen“. Auch im Leben sind nicht alle Affekte, die an sich <lb n="ple_246.003"/> den Charakter des Schmerzes oder doch der Unlust tragen, einer leisen <lb n="ple_246.004"/> Beimischung lustvoller Erregungsgefühle völlig bar. Hier freilich ist die <lb n="ple_246.005"/> Grenze, wo die Leidenschaft nur noch Leiden bringt, schnell erreicht; anders <lb n="ple_246.006"/> in der Kunst, wo die im Unterbewußtsein schlummernde Gewißheit, daß das <lb n="ple_246.007"/> Gesehene und Gehörte nur Illusion ist, auch die stärksten Erschütterungen <lb n="ple_246.008"/> begleitet und dadurch soweit mildert, daß sie zur Lust werden können. <lb n="ple_246.009"/> Daher ist begreiflicherweise diejenige Dichtung, welche den Affekt aufs <lb n="ple_246.010"/> höchste steigert, auch die Quelle des höchsten künstlerischen Genusses. <lb n="ple_246.011"/> Aus eben diesem Grunde, und nur aus diesem, ist man berechtigt, gerade <lb n="ple_246.012"/> in der dramatischen Form der Tragödie die höchste, weil wirkungsvollste <lb n="ple_246.013"/> Darstellung des Tragischen zu sehen: an sich wird es durch das Epos, <lb n="ple_246.014"/> durch Roman und Novelle durchaus nicht unzulänglicher verkörpert.</p> <p><lb n="ple_246.015"/> Dennoch ist die Frage nach dem Wesen des Tragischen hiermit noch <lb n="ple_246.016"/> nicht gelöst, zum mindesten nicht im letzten Grunde erschöpft. Denn <lb n="ple_246.017"/> naturgemäß müßte man annehmen, daß ein Kampf, der uns so tief erregt, <lb n="ple_246.018"/> eine Handlung, die uns so gewaltig spannt wie der Verlauf einer echten <lb n="ple_246.019"/> Tragödie, nur dann unser Gefühl befriedigt, wenn sie mit dem Sieg des <lb n="ple_246.020"/> Helden schlösse. Aber das Gegenteil ist der Fall: erst der Untergang des <lb n="ple_246.021"/> Helden gibt der tragischen Wirkung die volle Wucht, und er erst ruft in <lb n="ple_246.022"/> den meisten Fällen das Gefühl der Erhebung hervor, das wir als die Quelle <lb n="ple_246.023"/> der höchsten tragischen Lust, als das Ergebnis der tragischen Handlung <lb n="ple_246.024"/> empfinden. Der Schluß des Wilhelm Tell hinterläßt längst nicht eine so <lb n="ple_246.025"/> tiefe Wirkung wie der der Jungfrau von Orleans oder der Braut von <lb n="ple_246.026"/> Messina, die Sophokleische Elektra wirkt bei weitem nicht so mächtig wie <lb n="ple_246.027"/> das tragische Ende in Äschylos Choëphoren. Tatsächlich also werden <lb n="ple_246.028"/> Lust und Erhebung nicht trotz dem Untergang sondern gerade durch den <lb n="ple_246.029"/> Untergang des Helden hervorgerufen.</p> <p><lb n="ple_246.030"/> Wie ist das möglich? Daß das Wertvolle zugrunde geht, daß der <lb n="ple_246.031"/> Edle leidet und stirbt, kann an sich unter keinen Umständen Lust erwecken. <lb n="ple_246.032"/> Was bleibt also übrig? Offenbar nur dies eine, daß der Wert, <lb n="ple_246.033"/> dessen Träger der Held ist, seinen Untergang überdauert, ja, gerade durch <lb n="ple_246.034"/> Leiden und Tod in voller Kraft und Bedeutung hervortritt, sich in diesem <lb n="ple_246.035"/> Sinne als ein Ewigkeitswert enthüllt. So wird es begreiflich, daß die echte <lb n="ple_246.036"/> Tragödie mit dem Untergang des Helden schließt und eben hierdurch <lb n="ple_246.037"/> die höchste tragische Lust hervorruft. Denn diese Lust ist nichts anderes <lb n="ple_246.038"/> als das Gefühl der Erhebung über das einzelne menschliche Schicksal, <lb n="ple_246.039"/> über Leiden und Tod; und dieses kann nur hervorgerufen werden, wenn es <lb n="ple_246.040"/> uns zur Anschauung kommt, daß es Mächte und Werte gibt, die alles das <lb n="ple_246.041"/> überwältigen und überdauern.</p> <p><lb n="ple_246.042"/> Welcher Art nun können diese Mächte sein? Schiller erkannte als <lb n="ple_246.043"/> eine solche ausschließlich die sittliche Kraft an; die <hi rendition="#g">Freiheit</hi> im Kantischen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [246/0260]
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dem schönen Goetheschen Ausdruck, „daß es noch lebt und schlägt und ple_246.002
möchte schlagen“. Auch im Leben sind nicht alle Affekte, die an sich ple_246.003
den Charakter des Schmerzes oder doch der Unlust tragen, einer leisen ple_246.004
Beimischung lustvoller Erregungsgefühle völlig bar. Hier freilich ist die ple_246.005
Grenze, wo die Leidenschaft nur noch Leiden bringt, schnell erreicht; anders ple_246.006
in der Kunst, wo die im Unterbewußtsein schlummernde Gewißheit, daß das ple_246.007
Gesehene und Gehörte nur Illusion ist, auch die stärksten Erschütterungen ple_246.008
begleitet und dadurch soweit mildert, daß sie zur Lust werden können. ple_246.009
Daher ist begreiflicherweise diejenige Dichtung, welche den Affekt aufs ple_246.010
höchste steigert, auch die Quelle des höchsten künstlerischen Genusses. ple_246.011
Aus eben diesem Grunde, und nur aus diesem, ist man berechtigt, gerade ple_246.012
in der dramatischen Form der Tragödie die höchste, weil wirkungsvollste ple_246.013
Darstellung des Tragischen zu sehen: an sich wird es durch das Epos, ple_246.014
durch Roman und Novelle durchaus nicht unzulänglicher verkörpert.
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Dennoch ist die Frage nach dem Wesen des Tragischen hiermit noch ple_246.016
nicht gelöst, zum mindesten nicht im letzten Grunde erschöpft. Denn ple_246.017
naturgemäß müßte man annehmen, daß ein Kampf, der uns so tief erregt, ple_246.018
eine Handlung, die uns so gewaltig spannt wie der Verlauf einer echten ple_246.019
Tragödie, nur dann unser Gefühl befriedigt, wenn sie mit dem Sieg des ple_246.020
Helden schlösse. Aber das Gegenteil ist der Fall: erst der Untergang des ple_246.021
Helden gibt der tragischen Wirkung die volle Wucht, und er erst ruft in ple_246.022
den meisten Fällen das Gefühl der Erhebung hervor, das wir als die Quelle ple_246.023
der höchsten tragischen Lust, als das Ergebnis der tragischen Handlung ple_246.024
empfinden. Der Schluß des Wilhelm Tell hinterläßt längst nicht eine so ple_246.025
tiefe Wirkung wie der der Jungfrau von Orleans oder der Braut von ple_246.026
Messina, die Sophokleische Elektra wirkt bei weitem nicht so mächtig wie ple_246.027
das tragische Ende in Äschylos Choëphoren. Tatsächlich also werden ple_246.028
Lust und Erhebung nicht trotz dem Untergang sondern gerade durch den ple_246.029
Untergang des Helden hervorgerufen.
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Wie ist das möglich? Daß das Wertvolle zugrunde geht, daß der ple_246.031
Edle leidet und stirbt, kann an sich unter keinen Umständen Lust erwecken. ple_246.032
Was bleibt also übrig? Offenbar nur dies eine, daß der Wert, ple_246.033
dessen Träger der Held ist, seinen Untergang überdauert, ja, gerade durch ple_246.034
Leiden und Tod in voller Kraft und Bedeutung hervortritt, sich in diesem ple_246.035
Sinne als ein Ewigkeitswert enthüllt. So wird es begreiflich, daß die echte ple_246.036
Tragödie mit dem Untergang des Helden schließt und eben hierdurch ple_246.037
die höchste tragische Lust hervorruft. Denn diese Lust ist nichts anderes ple_246.038
als das Gefühl der Erhebung über das einzelne menschliche Schicksal, ple_246.039
über Leiden und Tod; und dieses kann nur hervorgerufen werden, wenn es ple_246.040
uns zur Anschauung kommt, daß es Mächte und Werte gibt, die alles das ple_246.041
überwältigen und überdauern.
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Welcher Art nun können diese Mächte sein? Schiller erkannte als ple_246.043
eine solche ausschließlich die sittliche Kraft an; die Freiheit im Kantischen
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