Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_239.001 ple_239.018 ple_239.036 ple_239.001 ple_239.018 ple_239.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0253" n="239"/><lb n="ple_239.001"/> und Liebe. (Coppée, Toute une jeunesse.) — In der Schusterwerkstatt sitzt <lb n="ple_239.002"/> ein Denkergeist, der sich zu tiefsinniger Spekulation, ja, zu hoher Lebensweisheit <lb n="ple_239.003"/> durchgerungen hat: schon eine Lieblingsvorstellung des jungen <lb n="ple_239.004"/> Goethe, die Raabe in den ersten Kapiteln des Hungerpastors zu künstlerischer <lb n="ple_239.005"/> Vollendung gebracht hat; die Glaskugel über dem Tisch, in der sich die <lb n="ple_239.006"/> wenigen Sonnenstrahlen fangen, die in die düstere Werkstatt hineinfallen, <lb n="ple_239.007"/> wird zum Symbol des Lichts, das in die Dunkelkeit des Erdenlebens strahlt. <lb n="ple_239.008"/> Auf dem Polizeibureau lebt in dem scheinbar ausgetrockneten Aktuar bei <lb n="ple_239.009"/> seinem abstoßenden Geschäft ein tiefes Gefühl, und sein scharfer Blick für <lb n="ple_239.010"/> alles Menschliche erkennt in dem jungen, auf der Straße aufgegriffenen Wildling <lb n="ple_239.011"/> inneren Wert und sittliche Kraft. (Raabe, Die Leute aus dem Walde.) — <lb n="ple_239.012"/> Die verkommene Gesellschaft von Abenteurern und Verbrechern, die sich <lb n="ple_239.013"/> in Bret Hartes Kalifornischen Novellen im Brüllerlager zusammengefunden <lb n="ple_239.014"/> haben, ergreift ein väterlich menschlicher Instinkt beim Anblick des armen <lb n="ple_239.015"/> kleinen Wurms, das die Lagerdirne sterbend zurückgelassen hat; sie werden <lb n="ple_239.016"/> gemeinschaftlich Väter, ziehen es auf und finden ein vergängliches, aber <lb n="ple_239.017"/> inniges Glück darin.</p> <p><lb n="ple_239.018"/> Zwei Tonarten lassen sich in diesen Variationen desselben Themas <lb n="ple_239.019"/> unterscheiden. Tritt in der Schilderung des Dichters mehr das Komische <lb n="ple_239.020"/> oder groteske Äußere hervor, das den inneren Wert umhüllt, so nähert sie <lb n="ple_239.021"/> sich der reinen Komik; verweilt sie mehr auf dem inneren Wert, von dem <lb n="ple_239.022"/> das Äußere absticht, so nähert sie sich dem Ernst: im ersteren Fall entsteht <lb n="ple_239.023"/> der <hi rendition="#g">scherzhafte,</hi> im zweiten der <hi rendition="#g">rührende</hi> Humor. Ein anschauliches Bild <lb n="ple_239.024"/> dafür, wie beide den gleichen Gegenstand, in diesem Falle die Treue eines <lb n="ple_239.025"/> äußerlich unscheinbaren oder verkommenen Dieners behandeln, erhalten wir, <lb n="ple_239.026"/> wenn wir den Prachtkerl Sam Weller aus den Pickwickiern neben Lessings <lb n="ple_239.027"/> Just stellen. Die meisten von den bisher angeführten Beispielen gehören <lb n="ple_239.028"/> der rührenden Gattung an, wie ihr denn Jean Paul sowohl als auch Raabe <lb n="ple_239.029"/> vorwiegend huldigen; von der scherzhaften geben viele Gestalten von Boz <lb n="ple_239.030"/> und nicht minder die meisten Charaktere Reuters, vor allem in der Stromtid, <lb n="ple_239.031"/> packende Beispiele. Aber so komisch Unkel Bräsig oder der Jude Moses <lb n="ple_239.032"/> in Sprache und Gebaren erscheinen, so wenig vergessen wir, daß hinter <lb n="ple_239.033"/> diesem komischen Äußeren ein ernsthafter Wert steckt, wie sehr wir auch <lb n="ple_239.034"/> über sie lachen, wir bleiben uns dieses Wertes bewußt und es ist niemals <lb n="ple_239.035"/> ein verächtliches oder spöttisches Lachen, das sie erregen.</p> <p><lb n="ple_239.036"/> Es liegt im Wesen der Sache, daß rührender und scherzhafter Humor <lb n="ple_239.037"/> ineinander übergehen. Keine größere humoristische Dichtung wird sich <lb n="ple_239.038"/> so leicht ganz in den Schranken der einen von beiden Gattungen halten, <lb n="ple_239.039"/> auch wenn ihr herrschender Charakter durch dieselbe bestimmt wird. Bei <lb n="ple_239.040"/> Dickens vermischen sich beständig beide Arten der Wirkung; aber auch <lb n="ple_239.041"/> Jean Paul hat scherzhafte Stellen: man denke an den Anfang der Flegeljahre <lb n="ple_239.042"/> (die Testamentsverlesung), und in Reuters Dichtungen fehlt es keineswegs <lb n="ple_239.043"/> an rührenden. Aber trotz dieser Erweiterung seiner Schranken läuft </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [239/0253]
ple_239.001
und Liebe. (Coppée, Toute une jeunesse.) — In der Schusterwerkstatt sitzt ple_239.002
ein Denkergeist, der sich zu tiefsinniger Spekulation, ja, zu hoher Lebensweisheit ple_239.003
durchgerungen hat: schon eine Lieblingsvorstellung des jungen ple_239.004
Goethe, die Raabe in den ersten Kapiteln des Hungerpastors zu künstlerischer ple_239.005
Vollendung gebracht hat; die Glaskugel über dem Tisch, in der sich die ple_239.006
wenigen Sonnenstrahlen fangen, die in die düstere Werkstatt hineinfallen, ple_239.007
wird zum Symbol des Lichts, das in die Dunkelkeit des Erdenlebens strahlt. ple_239.008
Auf dem Polizeibureau lebt in dem scheinbar ausgetrockneten Aktuar bei ple_239.009
seinem abstoßenden Geschäft ein tiefes Gefühl, und sein scharfer Blick für ple_239.010
alles Menschliche erkennt in dem jungen, auf der Straße aufgegriffenen Wildling ple_239.011
inneren Wert und sittliche Kraft. (Raabe, Die Leute aus dem Walde.) — ple_239.012
Die verkommene Gesellschaft von Abenteurern und Verbrechern, die sich ple_239.013
in Bret Hartes Kalifornischen Novellen im Brüllerlager zusammengefunden ple_239.014
haben, ergreift ein väterlich menschlicher Instinkt beim Anblick des armen ple_239.015
kleinen Wurms, das die Lagerdirne sterbend zurückgelassen hat; sie werden ple_239.016
gemeinschaftlich Väter, ziehen es auf und finden ein vergängliches, aber ple_239.017
inniges Glück darin.
ple_239.018
Zwei Tonarten lassen sich in diesen Variationen desselben Themas ple_239.019
unterscheiden. Tritt in der Schilderung des Dichters mehr das Komische ple_239.020
oder groteske Äußere hervor, das den inneren Wert umhüllt, so nähert sie ple_239.021
sich der reinen Komik; verweilt sie mehr auf dem inneren Wert, von dem ple_239.022
das Äußere absticht, so nähert sie sich dem Ernst: im ersteren Fall entsteht ple_239.023
der scherzhafte, im zweiten der rührende Humor. Ein anschauliches Bild ple_239.024
dafür, wie beide den gleichen Gegenstand, in diesem Falle die Treue eines ple_239.025
äußerlich unscheinbaren oder verkommenen Dieners behandeln, erhalten wir, ple_239.026
wenn wir den Prachtkerl Sam Weller aus den Pickwickiern neben Lessings ple_239.027
Just stellen. Die meisten von den bisher angeführten Beispielen gehören ple_239.028
der rührenden Gattung an, wie ihr denn Jean Paul sowohl als auch Raabe ple_239.029
vorwiegend huldigen; von der scherzhaften geben viele Gestalten von Boz ple_239.030
und nicht minder die meisten Charaktere Reuters, vor allem in der Stromtid, ple_239.031
packende Beispiele. Aber so komisch Unkel Bräsig oder der Jude Moses ple_239.032
in Sprache und Gebaren erscheinen, so wenig vergessen wir, daß hinter ple_239.033
diesem komischen Äußeren ein ernsthafter Wert steckt, wie sehr wir auch ple_239.034
über sie lachen, wir bleiben uns dieses Wertes bewußt und es ist niemals ple_239.035
ein verächtliches oder spöttisches Lachen, das sie erregen.
ple_239.036
Es liegt im Wesen der Sache, daß rührender und scherzhafter Humor ple_239.037
ineinander übergehen. Keine größere humoristische Dichtung wird sich ple_239.038
so leicht ganz in den Schranken der einen von beiden Gattungen halten, ple_239.039
auch wenn ihr herrschender Charakter durch dieselbe bestimmt wird. Bei ple_239.040
Dickens vermischen sich beständig beide Arten der Wirkung; aber auch ple_239.041
Jean Paul hat scherzhafte Stellen: man denke an den Anfang der Flegeljahre ple_239.042
(die Testamentsverlesung), und in Reuters Dichtungen fehlt es keineswegs ple_239.043
an rührenden. Aber trotz dieser Erweiterung seiner Schranken läuft
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |