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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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welchen Punkten kontrastieren, mithin keine, die dem Satiriker nicht Stoff ple_234.002
böten. Der einfachste Fall und gleichsam die Grundform für die übrigen ple_234.003
ist offenbar der, wo eine bewußte Heuchelei sich unfreiwillig selbst entlarvt: ple_234.004
in diesem Sinn ist Molieres Tartuffe das unsterbliche Vorbild jeder ple_234.005
dramatischen Satire. Es ist jedoch keineswegs notwendig, daß dem Mißverhältnis ple_234.006
zwischen Wahrheit und Schein immer heuchlerische Absicht zugrunde ple_234.007
liegt, vielmehr wird es weit öfter naive Selbstüberschätzung sein, ple_234.008
welche den Menschen über seinen eigenen Wert täuscht und fortwirkend ple_234.009
auch andere zu täuschen vermag. Oder auch das Umgekehrte tritt ein: ple_234.010
der Respekt, den Außenstehende empfinden, flößt dem Respektierten eine ple_234.011
hohe Meinung von sich selber ein: Molieres Femmes savantes, Ibsens ple_234.012
Bund der Jugend zeigen diesen Typus. Endlich ist auch eine Mischung ple_234.013
von beiden möglich: halb mit bewußter Absicht, halb ohne eine solche ple_234.014
täuscht ein Mensch den anderen über seinen Wert. Diese verwickeltere ple_234.015
Gattung von Charakteren (die vielleicht im Leben die häufigste ist) ple_234.016
schildert Ibsen mit besonderer Vorliebe in den verschiedensten Schattierungen: ple_234.017
von dem Konsul Bernick in den Stützen der Gesellschaft an, der ple_234.018
sich vom kalten Heuchler nur wenig unterscheidet, bis zu dem fast naiven ple_234.019
Komödianten Hjalmar Ekdal und dem genialen Baumeister Solneß. Mit ple_234.020
furchtbarem Ernst hat Chamisso in dem Gedicht "Die Erscheinung", wohl ple_234.021
dem Tiefsten, was er geschrieben hat, das typische Bild einer solchen ple_234.022
Natur entworfen.

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Sehen wir nun von der Psychologie der Charaktere ab und betrachten ple_234.024
die Gegensätze selbst, welche den satirischen Dichtern Stoff bieten, so ple_234.025
finden wir zunächst, daß eine Reihe von allgemeinen Typen mit Vorliebe ple_234.026
von moralisierenden Dichtern behandelt werden. Der aufgeblasene und ple_234.027
innerlich hohle Vornehme, der übersättigte und gelangweilte Reiche sind ple_234.028
besonders in dem zum Moralisieren so geneigten 18. Jahrhundert immer ple_234.029
wieder dargestellt und gegeißelt worden. So erscheinen sie bei den ple_234.030
deutschen Fabeldichtern, so in des biederen Gellert treuherzigen Erzählungen, ple_234.031
so auch in Wielands anmutiger und harmloser Kunst. Ein leichter ple_234.032
Zug von Selbstgefälligkeit ist in den meisten dieser Darstellungen bemerkbar. ple_234.033
Erweitert und vertieft aber wird dieser an sich etwas seichte Gegensatz zu ple_234.034
einer allgemeinen Verspottung der Zivilisation und ihrer vermeintlichen ple_234.035
Werte gegenüber der Einfalt und Einfachheit natürlicher Zustände: vor dem ple_234.036
unbestochenen und unbefangenen Urteil eines schlichten Gemütes halten ple_234.037
sie nicht stand, sie zeigen sich in ihrer Hohlheit und Verlogenheit. Es ple_234.038
ist dies bekanntlich der Lebensgedanke Rousseaus, den Schiller eben deshalb ple_234.039
unter die pathetischen Satiriker rechnet; zum Motiv der satirischen ple_234.040
Dichtung ist er freilich nicht erst durch seinen Einfluß geworden. Schon ple_234.041
in Molieres Misanthrop bildet er das Thema, und in Voltaires Ingenu ist es ple_234.042
bereits der ehrliche Hurone, der Naturmensch, in dessen Erlebnissen und ple_234.043
Schicksalen die Zivilisation bloßgestellt wird, wie später in Seumes Kanadier,

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Natur entworfen.

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[234/0248] ple_234.001 welchen Punkten kontrastieren, mithin keine, die dem Satiriker nicht Stoff ple_234.002 böten. Der einfachste Fall und gleichsam die Grundform für die übrigen ple_234.003 ist offenbar der, wo eine bewußte Heuchelei sich unfreiwillig selbst entlarvt: ple_234.004 in diesem Sinn ist Molières Tartuffe das unsterbliche Vorbild jeder ple_234.005 dramatischen Satire. Es ist jedoch keineswegs notwendig, daß dem Mißverhältnis ple_234.006 zwischen Wahrheit und Schein immer heuchlerische Absicht zugrunde ple_234.007 liegt, vielmehr wird es weit öfter naive Selbstüberschätzung sein, ple_234.008 welche den Menschen über seinen eigenen Wert täuscht und fortwirkend ple_234.009 auch andere zu täuschen vermag. Oder auch das Umgekehrte tritt ein: ple_234.010 der Respekt, den Außenstehende empfinden, flößt dem Respektierten eine ple_234.011 hohe Meinung von sich selber ein: Molières Femmes savantes, Ibsens ple_234.012 Bund der Jugend zeigen diesen Typus. Endlich ist auch eine Mischung ple_234.013 von beiden möglich: halb mit bewußter Absicht, halb ohne eine solche ple_234.014 täuscht ein Mensch den anderen über seinen Wert. Diese verwickeltere ple_234.015 Gattung von Charakteren (die vielleicht im Leben die häufigste ist) ple_234.016 schildert Ibsen mit besonderer Vorliebe in den verschiedensten Schattierungen: ple_234.017 von dem Konsul Bernick in den Stützen der Gesellschaft an, der ple_234.018 sich vom kalten Heuchler nur wenig unterscheidet, bis zu dem fast naiven ple_234.019 Komödianten Hjalmar Ekdal und dem genialen Baumeister Solneß. Mit ple_234.020 furchtbarem Ernst hat Chamisso in dem Gedicht „Die Erscheinung“, wohl ple_234.021 dem Tiefsten, was er geschrieben hat, das typische Bild einer solchen ple_234.022 Natur entworfen. ple_234.023 Sehen wir nun von der Psychologie der Charaktere ab und betrachten ple_234.024 die Gegensätze selbst, welche den satirischen Dichtern Stoff bieten, so ple_234.025 finden wir zunächst, daß eine Reihe von allgemeinen Typen mit Vorliebe ple_234.026 von moralisierenden Dichtern behandelt werden. Der aufgeblasene und ple_234.027 innerlich hohle Vornehme, der übersättigte und gelangweilte Reiche sind ple_234.028 besonders in dem zum Moralisieren so geneigten 18. Jahrhundert immer ple_234.029 wieder dargestellt und gegeißelt worden. So erscheinen sie bei den ple_234.030 deutschen Fabeldichtern, so in des biederen Gellert treuherzigen Erzählungen, ple_234.031 so auch in Wielands anmutiger und harmloser Kunst. Ein leichter ple_234.032 Zug von Selbstgefälligkeit ist in den meisten dieser Darstellungen bemerkbar. ple_234.033 Erweitert und vertieft aber wird dieser an sich etwas seichte Gegensatz zu ple_234.034 einer allgemeinen Verspottung der Zivilisation und ihrer vermeintlichen ple_234.035 Werte gegenüber der Einfalt und Einfachheit natürlicher Zustände: vor dem ple_234.036 unbestochenen und unbefangenen Urteil eines schlichten Gemütes halten ple_234.037 sie nicht stand, sie zeigen sich in ihrer Hohlheit und Verlogenheit. Es ple_234.038 ist dies bekanntlich der Lebensgedanke Rousseaus, den Schiller eben deshalb ple_234.039 unter die pathetischen Satiriker rechnet; zum Motiv der satirischen ple_234.040 Dichtung ist er freilich nicht erst durch seinen Einfluß geworden. Schon ple_234.041 in Molières Misanthrop bildet er das Thema, und in Voltaires Ingénu ist es ple_234.042 bereits der ehrliche Hurone, der Naturmensch, in dessen Erlebnissen und ple_234.043 Schicksalen die Zivilisation bloßgestellt wird, wie später in Seumes Kanadier,

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/248>, abgerufen am 25.11.2024.